Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Khesanh geschafft worden sind, zusammen mit fast 2000 Kilogramm »Körpertüten«, mit Gummifutter und Reißverschluß versehenen Futteralen für die Toten.
Die Dr. F. F. Fleury sich ansehen will.
25. Januar, 1968 Donnerstag
Zwar war es nicht das Leningrader Sinfonieorchester, das die Sowjetunion 1961 in den Weltraum schickte, sondern ein Tonband mit Gesängen des einhundertzehnköpfigen Pjatnitzki-Chors, um die westlichen Kollegen zu täuschen. Die Sowjets finden den Witz so gut, sie mögen ihn nicht für sich behalten.
Die Wohnung ist leer. Die Betten der Killainen-Kinder sind verschwunden, auch den Fernsehapparat hat Mr. Robinson wieder in seinen Keller zurückgeholt. Alle Möbel stehen wie vor zweieinhalb Wochen, als die vaterlose Familie Fleury bei uns einfiel, einige um ein Weniges verrückt. Es ist, als wären sie nie bei uns gewesen; hinge in der warmen Luft nicht noch ein Rest von dem Parfüm, mit dem Annie sich die Stirn kühlte. Kannst du es erklären, Marie?
Der Gemeine Robert W. Meares aus Fayetteville, N. C., 19 Jahre alt, der seine Uniform nicht hatte anlegen wollen, wurde von einem Kriegsgericht zu vier Monaten Zwangsarbeit und viermal $ 68 Geldstrafe verurteilt. Darauf meldete er sich freiwillig nach Viet Nam. Da galt von dem Urteil nur noch das Bezahlen.
Marie hat es so verstanden: Annie mochte bei uns nicht bleiben, nachdem sie einen Brief gelesen hat, der an sie nicht geschrieben war. Sie kann sich nicht leiden, weil der Brief nicht einmal versteckt war, und der Bruch des Vertrauens um so größer. Sie kann nicht leiden, daß die Cresspahl nun glauben muß, sie sei nun auch in Annies Gesprächen mit F. F. Fleury vorgekommen als eine unleidliche Person, die nichts im Kopf hat als Viet Nam und das Quälen von Kindern. Sie ist sich selbst nicht gut, weil sie nicht bleiben mochte, bis sie wenigstens das hätte abstreiten können.
Gestern wurde die Frau des Präsidenten zwischen Limousine und Clubtür von Jugendlichen mit einem Schild belästigt, auf dem stand: WIR SIND AUF DER SEITE VON EARTHA KITT . »Die Erste Dame des Staates zog ihren Nerzmantel um sich zusammen, nahm den Kopf hoch und gab keine Antwort.« Mit solchen spricht sie nicht.
Noch einmal, Marie. So ist es nicht zu verstehen. Also: Annie mag an dir nicht leiden, daß du den Brief nicht als einen ihres Mannes eingestanden hast. Sie weiß wohl, daß sie dazu kein Recht hat, aber sie nimmt dir übel, daß du über ihren Kopf hinweg entschieden hast, was sie von dir wissen darf und was nicht. Sie nimmt sich übel, daß du sie jetzt für jemand halten wirst, der fremde Briefe liest, aber sie mochte nicht zulassen, daß sie weiß, daß du nicht weißt, daß sie es weiß. Da sollte ich ihr ein Taxi von der West End Avenue holen, und sie ist mit allen drei Kindern nach Süden gefahren, und weil die West End keine Einbahnstraße ist, vielleicht dann doch nach Norden. Ist das klar?
Das moskauer Außenministerium hat sich unverzüglich das amerikanische Ansinnen verbeten, wegen eines Spionageschiffs bei den Behörden Nordkoreas zu vermitteln. Stellvertretender Minister Wassili V. Kusnetzow hat das Papier nicht einmal angenommen, etwa als Gedächtnishilfe.
Nein. Kannst du es noch einmal versuchen, Marie? Nicht gern: Sie nimmt dir übel, daß du durch das Verschweigen des Briefes verhindert hast, daß sie dich tröstet. Sie hätte dir gern sagen wollen, daß du nicht bist wie Fleury dich beschreibt. Insbesondere seist du nicht vollkommen, und hättest so etwas Gräßliches auch gar nicht vor. Nun nimmt sie sich übel, daß sie sich in eine Lage gebracht hat, in der sie das nicht mehr sagen kann. Sie nimmt dir übel, daß du den Brief nicht wenigstens versteckt hast. Sie nimmt sich übel, daß sie nicht so ist wie du denkst. Jetzt versteh ich es selber nicht mehr.
Eine junge Frau, die vor ihrem Postkasten in der 75. Straße zwischen der Fünften und Madison Avenue von einem Mann mit Messer überfallen wurde, während dreißig Meter weiter ein Polizist ihre Schreie nicht und nicht die Trillerpfeife des Portiers hörte, versteht den Zwischenfall in einer Frage: Wenn die Polizei einem Bürger hier nicht hilft, was tut sie dann in den Slums?
Da hat Annie wohl einiges in finnischer Sprache ausgedrückt, Marie. Nein: Sie war aufgeregt vom Warten, weil ich später aus der Schule kam, und deswegen habe ich eigentlich nur verstanden, daß sie dir übel nimmt, daß du ihr nicht raten wolltest. Sie nimmt sich übel, daß sie es tut, obwohl sie
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