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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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weiß, daß du nach einem solchen Brief nicht über eine Rückkehr in Fleurys Haus reden konntest. Sie nimmt dir übel, daß du ihr nicht einmal abgeraten hast, als wüßtest du es schon entschieden. Sie kann sich nicht leiden, weil sie dich denken läßt, sie geht zurück nicht bloß in Fleurys Haus, sondern auch zu seinen Meinungen über dich. Sie nimmt dir übel, daß du nun nicht mehr mitgekommen wärst nach Vermont, und sie nimmt sich übel, daß sie dich gebraucht hätte als Hilfe bei der Arbeit und gegen Angst. Und wenn du diese 85 Dollar nicht ohne Widerrede annimmst, mag sie dich nicht mehr sehen. Sie mag dich aber, und daß du kämst, das möchte sie. Sie hat eben gedacht, ich verstehe nicht, was sie sagt, und werde es nicht erklären können. Und was bedeutet es übrigens?
    Und was sollen wir davon halten, daß eine so sittenstrenge Tante wie die New York Times heute Werbung macht für ein Studio, wo man nackte Mädchen fotografieren kann?

26. Januar, 1968 Freitag
    Gestern abend, im überfüllten Busbahnhof an der 8. Avenue, warf ein Mann eine neunzehnjährige Studentin auf dem Absatz der Treppe ins untere Stockwerk zu Boden, bedrohte sie mit einer Pistole und schickte sich an, sie zu vergewaltigen unter den Blicken von reichlich Zuschauern, die nicht einschritten. Dann kam ein Mensch namens William Williams und befreite das Mädchen.
    Im April 1938 hörte Wilhelm Brüshaver, evangelischer Pastor in Jerichow, seine Frau von einer Behauptung Lisbeth Cresspahls erzählen, wonach die Heilige Schrift an keiner Stelle den Selbstmord verbiete. Das sei doch nicht zu glauben; ob es denn wahr sei?
    Aggie Brüshaver fiel es ein, als ihr Mann auf der Rückkehr von einem Krankenbesuch seine lehmverschmierten Stiefel in der Küche abstellte, und sie sagte es als einen Einfall beim Waschen von Kinderzeug, so daß er es hinter der Tür halb vergessen hatte. Er hatte an seine Predigt zu denken; er wollte nicht einmal mürrisch sein, als er ohne Antwort wegging.
    Pastor Brüshaver machte es inzwischen so, daß er seine Predigten schriftlich ausarbeitete. Saß am Freitag und Sonnabend bis in die späte Nacht an der Lampe, und sah am Sonntagvormittag auf der Kanzel grau aus, gedunsen im Gesicht, und sprach nicht mehr wie Einer, der etwas gesehen hat und seinen Bericht einfach aus der Wahrheit bezieht, sondern als zweifle er an der Erinnerung. Es war nicht nur das Ablesen, das ihn zum Holpern brachte; tatsächlich überlegte er vor manchen Sätzen, ob er sie ausreichend abgestützt hatte. In der Gemeinde vor ihm saß zumindest einer, der seine Sätze nicht für sich aufnahm, sondern sie für andere aufschrieb. Dann kam einer der freundlichen Herren von der Geheimen Staatspolizei in Gneez, bestellte sich Kaffee wie in einer requirierten Gastwirtschaft, nahm von den Zigarren als seien sie angeboten und erkundigte sich nach der Bedeutung der Predigt zu Judica. Es genügte ihnen nicht, daß im Evangelium des Johannes 8 wirklich Jesus den Leuten vorwarf, sie wollten ihn umbringen, weil er ihnen die Wahrheit sagte; sie wünschten erklärt zu haben, welche Todesfälle Brüshaver denn gemeint habe. Tatsächlich hatte er halb an Fleischer Methfessel gedacht, der für ein paar Worte in einem Lager dumm geschlagen worden war, oder an die Hinrichtungen, von denen aus Hamburg berichtet wurde; ihm war nicht wohl, wenn er sich hinterher doch herauszog mit der Erklärung, es sei die von Gott überlieferte Wahrheit gemeint gewesen, nicht eine weltliche; siehe Vers 40, 41. Er wäre gern mutig gewesen, tapfer geblieben. Aber er hatte noch nicht verwunden, daß er den Sarg seines Sohnes nicht hatte öffnen dürfen. Die Überführung der Leiche auf den Friedhof von Lalendorf, wo die erste Frau begraben lag, war ihm verboten worden. Die Beerdigung wurde dann nicht einmal in Jerichow erlaubt, nur auf dem gneezer Hauptfriedhof, damit das Gefolge kleiner wurde, und am Ende waren nicht nur die Fremden im Gefolge, sondern auch der aus Berlin befohlene Pfarrer im Dienst der Polizei gewesen. Und es half nichts, wenn Brüshaver sich darauf berief, daß er einen Sohn an das Vaterland geopfert hatte. Nicht einmal noch erhob ihn über Verdacht, daß er im Krieg 1914-1918 Offizier gewesen war. Deswegen kamen die Herren doch zu ihm und machten ihm Vorhaltungen wegen eines Besuchs bei Alfred Bienmüller, der seinen Sohn nicht zur Konfirmation hatte schicken wollen. Brüshaver hatte mit Bienmüller gesprochen wie jemand, der sich erkundigt, und Bienmüller

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