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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Ontologien.
    Cresspahl hätte jedoch lieber Prozeß und Urteil gehabt.
    5. Juni, 1968 Mittwoch
    – Wo warst du, Marie! Wo du warst!
    – Es ist jetzt ein Viertel vor sechs p. m., und ich bin zu Hause. Das ist deine Vorschrift.
    – Wo warst du den ganzen Tag?
    – Und Sie, Mrs. Cresspahl, sind auch heute keine Minute früher in der Wohnung als sonst.
    – Hätte ich kommen sollen? Ist das ein Vorwurf?
    – Du bist eine Angestellte, du darfst die Arbeit nicht verlassen. Wenn es mal regnen sollte, oder die Ubahn streikt, vielleicht. Doch nicht wegen privater Sachen.
    – Marie, wie hast du es erfahren?
    – Im Park.
    – Das ist nicht dein Schulweg.
    – O. K.
    – Wir hatten verabredet –
    – Die West End Avenue. Als ob die Polizei da Spalier stünde! Da bin ich angequatscht worden noch und noch. Wehren kann ich mich auch im Riverside Park, am hellichten Morgen. Ich bin kein Kind mehr, Gesine!
    – Du verstehst mich nicht.
    – Dich versteh ich nicht!
    – Als ich zum Broadway kam, war die New York Times ausverkauft.
    – Durch den Park bin ich zur Schule gegangen, weil die erste Stunde mittwochs auf dem Sportplatz stattfindet. Der ist im Riverside Park, Ecke 107. Straße und –
    – Einverstanden.
    – Aus dem Haus bin ich gekommen wie unter einer Tarnkappe. Robinson Adlerauge war auf der Treppe zugange, mit dem Rücken zu mir. Der Fahrstuhl stand offen, Esmeraldas piekfeine Handtasche ganz unbewacht auf dem Schemel, sie war nicht zu sehen. Kein Nachbar, kein Busfahrer auf der Straße. Damit es mich plötzlich überfällt. Auf einer Bank beim Gedächtnisbrunnen für die Feuerwehrleute, ganz allein saß da ein junger Mann. Neunzehn. Kein Student, eher ein Schichtarbeiter in der Freizeit. Baseballsweater, lange Hosen, dicke weiße Wollstrümpfe, kein Tourist. Crew cut. Lag bequem halb über die Bank zurückgelehnt, beide Arme ausgestreckt, hatte keine Sorge in der Welt. Neben ihm das Radio, ein Überseekoffer, ganz aufgeregte Stimmen. Da habe ich es gehört. Kennedy erschossen.
    – Angeschossen, Marie. »Shot« ist nicht so endgültig wie im Deutschen.
    – Das kommt eben davon, daß ich dein verdammtes Deutsch mit dir reden muß! He was shot. He was not dead.
    – Mußt nicht deutsch reden.
    – Der junge Mann saß da so müßig, so entspannt, so gemächlich, der ließ mit Genuß mich zuhören, und sah mich nicht. Als wär ihm das gekommen wie verabredet. Als wär ihm das recht.
    – Was wußtest du da?
    – Senator Kennedy von New York gewann Vorwahl in Kalifornien. Hielt Siegesrede im Ambassador von Los Angeles. Auf dem Wege zur Pressekonferenz, in einem Küchenkorridor wurde er von hinten in den Kopf geschossen. 1 : 17 kalifornischer Sommerzeit. Als es bei uns ein Viertel nach drei war. Viertel vier im Deutschen, ich weiß schon! Lag auf dem Boden, die Frau kniete neben ihm. Die Sache mit dem Rosenkranz. Die letzte Ölung. Bewußtlos im Krankenhaus. Dann von vorn: Robert Francis Kennedy, Senator von New York –
    – In der Ubahn war etwas zu ahnen, und doch nicht. Weil es der heißeste Tag im Jahr ist bisher, mochten die alle so dumpf aneinander vorbeisehen, den Mund halten. Das mußte gar kein anderer Trauerfall sein als das Leben manchmal ist für manche in New York. Dann im Bahnhof Grand Central sah ich einen Fernsehapparat in einem Schaufenster, voll aufgezogenes Bild, kein Ton in den Lautsprechern. Auf dem Schirm war immer nur das eine krumme Wort, wie mit dem Finger in Staub geschrieben: Shame.
    – »Schande«, im Deutschen?
    – Auch daß man sich schämt.
    – Ja.
    – Gleich in der Bank habe ich die Schule angerufen.
    – Gesine, würdest du an einem solchen Tag in die Schule gehen?
    – Du kriegst deinen Zettel für Schwester Magdalena.
    – Für morgen auch.
    – Willst du frei haben den ganzen Rest der Woche?
    – Du bist nicht schlecht als Mutter, Gesine.
    – Doch, ich war wohl albern. Dachte, ich müßte mit dir sprechen.
    – Das mußtest du wirklich. Das hatte ich nötig. Erst war ich wild auf die Bank, weil sie Privatgespräche verbietet, dann auf dich, weil du gehorchst. Jetzt ist mir wohler; du hast es versucht.
    – Auch in der Wohnung.
    – Da war ich längst auf dem Times Square. Was da für Menschen standen, alle den Kopf im Nacken lasen die umlaufende Leuchtschrift. Wenn einer wegging, mit so finsterer Wut drängte er sich durch die anderen. Einmal bin ich fast von den Beinen gestoßen worden.
    – Du, unter dem Times Square habe ich so viel Höflichkeit gesehen, sie muß Löcher

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