Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
gegrüßt, einverstanden und spöttisch; nun sollte sie helfen, daß es denen an den Kragen ging. Für den Schnüffler stieß sie sich an der Bedingung, daß in jenem Freundeskreis ein weiblicher Gast nur willkommen war, wenn ein männlicher bürgte für Redlichkeit und Verschwiegenheit der Dame; nun durfte er sie auch noch bewundern als eine Vorkämpferin für die Unabhängigkeit der Frau. Angst hatte sie, Hilfe bestellte sie sich.
– Kann ich, weiß ich von dir: Wat min grotn Brauder is, de hett Nœgel ünne de Schauh.
– Jakob trat auf in der Stadt Halle a. d. Saale, in einer Sonntagsuniform der Deutschen Reichsbahn, den einen oder anderen Stern auf den Schulterklappen, und geleitete sin lütt Süster geduldig von einem Studentenlokal in ein anderes, bis sie ihm ihren Betreuer weisen konnte. Während ich dem ein unbetrübtes Lächeln vorführte, ging Jakob auf ihn zu und sprach ein paar Takte; der Spitzel sah an uns vorbei, als wir am Sonntagmorgen schritten zu Pottel & Broskowsky am Waisenhausring, einem bürgerlichen Weinrestaurant mit sauberen Tischtüchern und silbernem Besteck; das ging über sein Spesenkonto. Ihm mochte aufgehen, daß es weniger schutzlos stand um sein Opfer; daß hier ein Gericht schärfer gewürzt war, als er würde aufessen mögen. Begehrte nie mehr, mir in abgedunkelten Projektionsräumen an die oberen Armpartien zu rücken. Dem stand das Lächeln schief; stud. phil. Cresspahl durfte sich geben, als hätt sie ihn vergessen.
– Wenn ich bloß wüßte, was Jakob dem mitgeteilt hat!
– Leider war auch ich neugierig –
– Keine Neugier. Bloß daß ich immer alles gern wissen möchte.
– Marie, dein Vater hat dafür gehalten, daß ein Mann zwar eingreift nach bestem Wissen und einem Erfolg; dennoch darf er es einer jungen Frau verschweigen.
– Und sei sie zweimal neben ihm aufgewachsen, als sei sie seine Schwester.
– Denk dir was aus.
– »Mein Herr, ich bin vorbestraft. Wegen Körperverletzung.«
– So viel Aufwand für einen Zweihundertgroschenjungen? Bei meiner Frage erinnerte sich Jakob, womit er ihn verscheucht hatte, so daß er lächelte; auch über mich, leise warnend, als wolle er mich vor einem unziemlichen Betragen behüten. Bei Jakob war ich all die Zeit die Jüngere. Er wünschte nun einen Vormittag bei Pottel & Broskowsky mit Cresspahls Gesine zu halten als ein Fest; ein Privatissimum sollte sie ihm erteilen über jenen Professor Ertzenberger und seinen Spaß an der Lautbildung eines Jungsemesters aus Mecklenburg. Prof. Ertzenberger war abgereist an eine Universität im westlichen Deutschland, als der Große Genosse Stalin am 12. Januar eine Verschwörung jüdischer Ärzte aufgedeckt, entlarvt und zerschlagen hatte in seiner eigenen Stadt Moskau. Nachdem ihm vom Kollegen auf den Fluren einer Universität in Halle der morgendliche Gruß verweigert worden war.
– Aus einem solchen Lande ginge ich weg. Wenn ich nur wüßte, warum Jakob da blieb!
– Daß wir es wüßten. Vielleicht weil er eine Arbeit versprochen hatte bei der Deutschen Reichsbahn; Einer muß sie doch tun.
– Da dachtest du daran, die ostdeutsche Gegend zu verlassen.
– Du denkst es einfach, bloß weil du von dem Umzug weißt. Anfänge hatte das so viele, bloß den ersten weiß ich noch: Jakob nickte zu meiner Ankündigung, obwohl wir doch saßen unter einem heilen Dach, pfleglich betreut von Herrn mit langen weißen Schürzen unter der Frackjacke, mit Ente auf dem Teller und Wein im Kübel mit Eis. Er bat sich aus, ich solle mir den Abschied überlegen für ein Vierteljahr.
– Die Stadt Halle/Saale verlassen.
– Das war leicht; die kannt ich ein halbes Jahr, als ich ging. Ich wußte bloß, was für Türme da den Leuten am liebsten sind, daß sie einen kleinen Platz namens Reileck für einzigartig halten in der Welt; hatte auch ihre Sprache verstehen gelernt. Aber ich vermied Wege über den Robert Franz-Ring (sie mögen da Ringe als Straßen), weil da die Verwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in Sachsen/Anhalt untergebracht war. Am Kirchtor 20 stand die Strafvollzugsanstalt Halle I , der »Rote Ochse«. Von Grüns Weinstuben wußte ich nun, daß es um die Ecke zur StVA Halle II ging; gegen meinen Willen hatte ich zu tun an der Kleinen Steinstraße zwischen Poliklinik und Hauptpostamt. Und wie kommst du dir vor auf schleichendem Gang zum Paulus-Viertel, um durch eine Wohnungstür in der Ludwig Wucherer-Straße eine ungezeichnete Mitteilung zu stecken des Inhalts, daß
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