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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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grüßte sie, sie wartete in weitem Abstand von ihr auf den Zug, sie stieg nie mit ihr in das selbe Abteil. Leslie Danzmann mag sich eine neue Demütigung erfunden haben, diesmal aus dem Geruch, den sie an sich trug. Das war es nicht. Der Duft fiel eher appetitlich auf. Das Cresspahlsche Kind wollte diese Danzmann strafen. Die war freigelassen worden, ihr Vater nicht. Die hatte ihr keine Nachricht gebracht von ihm. Die konnte ihn auch verraten haben.

1. Juli, 1968 Montag
    Manchmal denke ich: das ist nicht sie. Was heißt hier sie, was ich; gedacht kann es werden. Es ist nicht zu denken. Sähe Einer allein sie, ich müßte meinen: das ist Gesine Cresspahl (Mrs.), eine Frau um die Fünfunddreißig (keine Dame), in der allerbesten Haltung für vornehme Gelegenheiten, das Kinn hoch, den Rücken gerade, weit ab von der Lehne, den Blick so beweglich gehalten, daß er von einem Moment zum anderen überwechseln kann von schwenkender Aufmerksamkeit zu unauflöslicher Verbindung mit nur einem Gegenstand, bloß einer Person; von fern müßte ich sie erkennen an den kurz geschnittenen Haaren, aus denen der Friseur das dicht überlappende Federkleid eines Vogels hat machen wollen, was aber nun lässig aussieht, zu struppig in der Stirn. Von nahem wäre sie unzweifelhaft, an den vorsichtigen Bewegungen der Lippen, zu schmal, ob nun kauend oder sprechend, an der flachen Grube unterhalb der Jochbeine, über denen die Haut manchmal hart gespannt wird von Mimik, an den härter gewordenen Falten in den Augenwinkeln, an den unwillkürlich verengerten Pupillen; das ginge mir auf als erstes: die versteckt Angst, nicht ungeschickt. Die ist auf der Hut, die wird sich wehren; erscheinen aber möchte sie als höflich, liebenswürdig, damenhaft. Es müßte schon ein Verliebter sein, der sie eigens beobachten wollte, wenn sie einen schicklich abgemessenen Bissen Fisch von der Gabel nimmt und ihn mit kaum erkennbarem Kauen zerlegt, damit ihr der Mund gleich leer wird, bereit zu Lächeln oder Antwort; uns fällt da wenig auf. Aber, sie ist nicht allein.
    Sie ist bloß eine von vielen Leuten in einem großzügig gestreckten Speiseraum, dessen wandhohe Fensterscheiben an zwei Kanten gegen die Sonne verstellt sind mit senkrechten Jalousiestreifen aus ganz weißem Stoff; sie sitzt in einer Männergesellschaft an einem der nördlichen Tische, hinter ihr leerer, schmutziger Himmel, in den schüchterne Turmspitzen emportasten wie abgeschnitten, da kämen Flugzeuge eher erwartet. Sie mag passen in die Gelegenheit des Restaurants, sie ist nicht fremd in den Manieren, die damastenes Tischtuch und silbernes Besteck mit Messerbänken und drei Trinkgläsern verlangen, makellos ist noch ihr Nicken über die Schulter zu dem Kellner, der ihr die Platte mit dem nächsten Gang zur Prüfung hinbückt; dies wird sie gelernt haben. Aber es ist das Restaurant hoch oben im Östlichen Turm der Bank, geschlossen für das Publikum, für gewöhnliche Leute, für Angestellte; selbst der Direktor der Abteilung Bürobedarf müßte sich geehrt fühlen durch die Einladung in diesen Himmel und die Erlaubnis, die französisch formulierte Speisekarte zu lesen, deren Herstellung er täglich in der Hausdruckerei genehmigt. Mrs. Cresspahl jedoch steht nicht nur noch niedriger in der Rangordnung des Hauses, schon das reicht für die Kellner zu leicht verrutschtem Benehmen; sie ist an diesem Tage auch die einzige Frau. Oh, hierher werden Frauen mitgebracht, es kommt vor. Nur, dann gehören sie zu der Familie, den Besitzern der Bank; sie sind Ehefrauen, eingeladen, wenn ein Vizepräsident im Rang erhoben wird oder mit einer Pension abgeschoben ins Alter und in das fast abgezahlte Eigenheim an der schlechten oder guten Seite des Sunds von Long Island; es kommen Damen von Verbündeten im geschäftlichen Leben, wenn ein Vertrag besiegelt, eine Masche gelaufen ist; und wenn die Staatsbank der Volksrepublik Polen nicht einen Mann zu Verhandlungen schickt, sondern eine Mrs. Paula Ford, wird es nicht abgehen ohne ein Essen zu ihren Ehren in diesen abgeschirmten Höhen. Mrs. Cresspahl nun war vor einem Jahr noch Sekretärin für Fremdsprachen, sie hat einmal in den tiefen Stockwerken gearbeitet in einem Großraumbüro, mit Tonbändern, deren Stimmen sie nicht vorgestellt wurde, angefangen hat sie in diesem Finanzinstitut an einer Rechenmaschine ganz unten; was soll sie hier? Es ist überdies kein beliebiger Tisch, sondern der reservierte von de Rosny, des wahren Regenten in dieser Bank, des

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