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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Tochter hatte ja Angst vor der Zukunft, die nun werden sollte; unweigerlich geriet sie beim Nachtragen der Vergangenheit an die Verluste. Jakob aber, siehst du wohl, hatte die Broschüre des Handbuchs für den Mecklenburgischen Landtag der 1. Wahlperiode auf seine Art geführt, da waren die Mitglieder ab Seite 64 ordentlich abgehakt, wenn sie noch tagen durften, bei manchem war doch ein Strich durch die Biographie gezogen, oder die Verhaftung durch die N. K. W. D. war verzeichnet, die Flucht nach Westberlin, Westdeutschland, ein Selbstmord. So lernte Cresspahl etwas über die Gegend, in die er freigelassen war.
    – Du warst eifersüchtig auf Jakob.
    – Stillzufrieden saß ich dabei. Wer so redete wie er, wollte nicht weg aus Jerichow nach Schleswig-Holstein.
    – Warum seid ihr bloß geblieben! Cresspahl hatte Freunde in Hamburg, in England!
    – Er hatte seine Angelegenheiten in Mecklenburg noch in keiner Ordnung. Zwar hatte er im Dienste der Sowjetmacht sein gesamtes festes oder bares Eigentum verloren; mir zuliebe wollte er abwarten, ob sie sich halten würden an die Eintragung meines Namens im Katasterblatt oder das Haus obendrein einziehen. Er war nicht gesund; er schloß sich halbe Tage lang ein, wenn wieder eine Frau zu Besuch gekommen war bei einem, der unglaublich ins Leben zurückgekommen war aus »Neubrandenburg« und Nachricht wissen mochte über den Sohn, den Mann. Von Freunden aus Hamburg hatte sich lediglich einer gemeldet, das war keiner, sondern der Alt-Parteigenosse Eduard Tamms, der benötigte von Cresspahl einen Persilbrief; in Hamburg waren sie noch nicht fertig mit der Entnazifizierung. Nach England traute er sich nie und nimmer. Da war Mr. Smith 1940 umgekommen in einem deutschen Luftangriff. Da lebte kein Arthur Salomon mehr, der für Cresspahl hätte ein Wort einlegen können; der hatte 1946 seinen Tod melden lassen durch die Kanzlei von Burse & Dunaway. Und wohin hätte er gehen wollen als nach Richmond. In Richmond war das Rathaus beschädigt von deutschen Bomben. Zwar im englischen Sektor von Berlin gab es einen Ingenieur für Wasserbau, dem hatte Cresspahl einmal einen Schäferhund mit vorzüglichen Papieren verkauft, den hatte Gesine im vorigen Sommer getroffen auf der Dorfstraße von Ahrenshoop, bei dem wäre er für eine Woche willkommen gewesen. Dafür war er zu beschädigt.
    – Wann war Cresspahl gesund?
    – Als er es an einem Tag fertig brachte, an Herrn Oskar Tannebaum, Pelzhandlung zu Stockholm, zu schreiben und ihm zu danken für ein Paket. In einem Zug geschrieben. Das war um die Mitte des Juni 1948.
    – Nun konntet ihr gehen.
    – Nun hatte die Sowjetische Militär-Administration in Deutschland den Verkehr zwischen ihrer Zone und den westlichen auf Eisenbahnen, auf Autos und zu Fuß gesperrt.
    11. Juli, 1968 Donnerstag
    Alexander Dubček hat die Zweitausend tschechoslowakischen Worte immerhin spalterisch genannt, als einen Grund zur Sorge hat er sie empfunden, weit ist er von ihnen abgerückt; nun belehrt ihn die Literaturnaja Gasjeta, Verlagsort Moskau, was wir in Wahrheit von ihnen zu halten haben: Wenn jemand öffentliche Kritik verlange, Demonstrationen, Entschließungen, Streiks und Boykott, alles zwecks Amtsentfernung von Personen, die ihre Macht mißbrauchten und dem allgemeinen Wohl Schaden zufügten, so sei das, offen gesprochen, ein provokatives, hetzerisches Aktionsprogramm. Es sei konterrevolutionär. Unzweifelhaft vernehmen wir die Aufforderung, die Literaturka als eine revolutionäre Erscheinung zu begreifen, zumindest im Umgang mit Machtmißbrauch.
    Am Ende des Schuljahrs 1947/48 waren die Lehrerinnen der gneezer Brückenschule einig, auf Cresspahl, Klasse Acht A Zwei, müsse ein Augenmerk gehalten werden. Nur Fräulein Riepschläger, in der verzeihlichen Unbedenklichkeit ihrer Jugend, schloß sich von Bedenken aus. – Sie hat ihren Vater wieder, von mir aus kann Gesine sich krumm freuen: sagte Bettina, in ihrer Einfalt. Das wollten die älteren, mehr erfahrenen Pädagoginnen dem Kind zugestehen für die ersten zwei Tage, für eine Woche allenfalls, aber verdächtig sei es, wenn solch Umschlag aus einem verdüsterten in ein offenes, ja zutrauliches Wesen so lange anhalte. Frau Dr. Beese und Frau Dr. Weidling hatten einander in der Wolle mit den psychologischen Theorien, die sie zu unterschiedlicher Zeit an unterschiedlichen Instituten erlernt hatten. Die Weidlingsche dachte da an ein Diktat, das sie mit grammatikalischen Schnipseln abgehalten hatte,

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