Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
mit Titbits (Rückübersetzung nicht aus Eitelkeit, sondern zwecks Bildung). Sie war sich nicht bewußt, daß ihre Stimme im Eifer des eleganten Artikulierens ins Kugelige überging, ins Eulige geradezu, so geriet das Wort usually allen Schülern bis auf fünf zu Phantasien, die fünf jedoch saßen rund um Cresspahl, die zwar mit Flüstern nicht aufgefallen war. Wie konnte ein so ängstliches Kind mit einem Mal die Versetzung in die Oberschule riskieren! Mehr noch, in der Pause schrieben Gabriel Manfras und Gesine öffentlich (!) an die Tafel, was sie verstanden hatten, Gesine »usually«, nun ja, Gabriel ein »jugewelly«, strich dann Gesines Version durch. Die Gesine von früher hätte die Lippen zusammengepreßt, wäre auf dem Absatz umgekehrt, trotzig, kleinlaut. Diese aber kam Frau Weidling hinterhergelaufen, hielt den Schüler Manfras am Arm(!), und fragte fröhlich, kumpanenhaft nach der richtigen Schreibweise. Nu seggn Sei doch bloß eins an. Frau Dr. Beese fragte, ob Cresspahl denn eine Eintragung ins Klassenbuch bekommen habe. Es sei ja das Einsagen nicht zu beweisen gewesen: versetzte die Weidlingsche, noch einmal entgeistert in der Erinnerung, wie die Schülerin Cresspahl allein mit ihr weitergegangen war, vertraulich fragend, ob Frau Doktor solche titbits von der British Broadcasting beziehe? sie höre das auch wohl mal. War es denkbar, mit einem Kind einen Schweigevertrag zu schließen? Strenge sei nach wie vor: sagte die Beese verträumt.
Gesine fühlte sich bloß aufgewacht. Unverhofft war das Drucksen vor Entschlüssen weg, das Getane richtig von Anfang an. Sie fand nichts dabei, eines Tages einen hölzernen Aktenkoffer als Schultasche zu benutzen. Auf Verlangen erklärte sie jedem den Stabrolldeckel, die drei Schübe (ausgenommen das geheime Fach, den Ort der Anfertigung, die Herkunft aus der Effektenkammer eines Gefängnisses); sie war nun einmal die Tochter eines Vaters, der dergleichen mit seinen Händen machen konnte. Es war nur recht, daß sie Frau Weidling Vertrauen anbot, wenn die es denn vergelten wollte. (Sie bedauerte ziemlich lange, daß die titbits unverhofft wegfielen aus dem Unterricht.) Sogar bei Frl. Pohl war aus dem tapferen Lernen, dem sturen Fleiß eine Freiwilligkeit geworden, ein Mitdenken wie im Spaß, eine Freude am Begreifen; sie blieb gefaßt, als die Pohlsche abrutschte in ihren früheren Begriff vom pädagogischen Eros und ihr mürrische Vorwürfe machte wie: Ja jetzt, Gesine! oder das mit dem nahenden Toresschluß; dabei bekam doch eher die ein Zucken um die Augen. Sie stand ja nicht nur in Mathematik auf zwei plus, in fast allen Fächern waren ihre Zensuren gut für das Recht auf die Oberschule; nun aber würde sie das Recht obendrein bekommen, denn für sie unterschreiben konnte ein Familienvorstand, der vor dem Gesetz galt. (Eigens wegen Frau Abs’ angefochtener Unterschrift hatte Jakob ihr bei Dr. Jansen ein Vormundschaftsverfahren in Gang gebracht, das durfte sie nun in den gneezer Stadtgraben werfen, wie es war.) Die Zukunft war eingetroffen, und sie war ihr zur rechten Zeit begegnet.
Sie hütete sich vor Übermut. Sie war eine der ersten aus ihrer Klasse, die in dem Büro erschienen, das Emil Knoop, in seinem unerschöpflichen Patriotismus, ausgeräumt hatte für das Volksbegehren. Als sie kam, war Frau Dr. Beese an der Reihe mit der Aufsicht, und da es in der Zeit vor dem Mittagszug war, standen sie einander allein gegenüber hinter den Fenstern, die Stück für Stück der Stalinstraße in Milchglas gekreuzte Hämmer wiesen. Unverhofft entschied sie, daß mit der Beese denn doch zu reden sei. Denn die Einrichtung Deutschlands als »unteilbare demokratische Republik«, es sollte ihr recht sein, insbesondere, wenn es »gerechten Frieden« dazu geben sollte; sie hatte in der Schule über Wahlen etwas anderes gelernt, als daß öffentliche Listen auslagen und Kinder ab vierzehn Jahren in solcher Sache befragt wurden. Sie fragte, ob es denn seine Richtigkeit auch habe. – Du bist mir von Person bekannt: sagte die Beese, grimmig, der entging an diesem Tag das Mittagessen. Gesine erwähnte ihr minderwertiges Alter. – Du unterschreib man: fauchte die Beese, abfällig, doch als rede sie zu, und das Kind verstand, es könne nützlich sein für die Erlaubnis in die Oberschule. So krakelte sie denn ihren Namen unter die Einheit Deutschlands, tröstete die Lehrerin mit einem Knicks und hüpfte vergnügt über die Riefelkacheln des großmächtigen Flurs auf die
Weitere Kostenlose Bücher