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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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schämt.
    Immer noch bloß Andeutungen aus »verläßlichen Quellen«, kein Wortlaut des alliierten Briefes an die Tschechoslowakei.
    18. Juli, 1968 Donnerstag
    Die New York Times hat den Brief der warschauer Genossen an die Tschechoslowaken gelesen und teilt daraus an Forderungen mit:
    »Entscheidendes Vorgehen gegen rechtsgesinnte und andere dem Sozialismus feindliche Kräfte.« Is ja jut. Einverstanden.
    »Kontrolle der Presse, des Rundfunks, des Fernsehens durch die Partei.« Weil die »grundlos« behauptet hätten, sowjetische Truppen in der Č. S. S. R. bedeuteten eine Bedrohung der nationalen Souveränität. Wenn es denn keine sein soll, einverstanden. Aber laßt die unter die Leute bringen, was sie sehen.
    »Wir treten vor euch nicht auf als Fürsprecher des Gestern, die euch gern behindern möchten bei der Wiedergutmachung eurer Fehler und Schwächen, eingeschlossen die Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit.« Wenn das bleiben soll, einverstanden.
    Die Neue Schule brachte uns bei, einander anzusehen nach unseren Vätern. Wie die Schülerin Cresspahl die Tochter eines Handwerkers war, so hing Pius Pagenkopf ein Vater an mit leitender Funktion in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und hohem Amt in der mecklenburgischen Landesregierung. Rückständiger Mittelstand und Fortschrittliche Intelligenz, wie konnten die an einem Tisch sitzen, vom Januar 1949 bis zum Abitur?
    Pius … bei der Deklination dieses Adjektivs war er einmal stecken geblieben; ihm mußte das als Übername lieber sein als eine hochdeutsche Übersetzung seines Nachnamens (Pferdehaupt). Zudem war er in unserer Klasse der einzige Katholik. Pius … wenn doch das Gedächtnis unsere Bitten bedienen wollte! Von Jakob habe ich das Bewußtsein seiner Nähe, seine Stimme, seine gelassenen Bewegungen; von Pius habe ich nur die Erinnerung an ein Foto. Da waren wir neunzehn und achtzehn, zu sehen vor kahlem Aprilschilf am gneezer Stadtsee. Da steht ein schmaler langer Junge mit hartem Kopf, der nimmt die Schultern zurück, ärgerlich über die Kamera, in der Haltung der Gegenwehr. Er hält eine brennende Zigarette wie ein Erwachsener. Und das Foto will mir einreden, Pius sei immer so fertig gewesen im Gesicht. Von der Kleinen neben ihm, der mit den Zöpfen, weiß ich aus jenem Moment bloß, daß der Vater ihr das Rauchen untersagen möchte, denn die versteckt ihre brennende Rauchware in der hohlen Hand. Dabei sehen wir aus wie ein eingespieltes Ehepaar, und kannten einander weit gründlicher als unsere Väter wahrnehmen wollten.
    Zu Anfang der neunten Klasse war Pius für mich fast bloß der Sohn von Herrn Pagenkopf. Leiter des Finanzamtes Gneez (S. P. D.), war er im April 1933 aus dem Amt gewiesen worden und hatte die drei Viertel seines Ruhegeldes in der Frachtgutabteilung des Bahnhofs aufbessern müssen (Schutzhaft anläßlich des Mussolinibesuchs in Mecklenburg). 1945 wollten denn die Leute von Gneez es ansehen für einen Ausgleich, wenn die Briten ihn zum Dolmetscher des Stadtkommandanten machten, aber sie nahmen ihm übel, daß er auf den Posten des Bürgermeisters ging unter den Sowjets, und besonders die Sozialdemokraten verdachten ihm seine Reden für die Vereinigung mit den Kommunisten, nun vollends, daß er auch noch in der Landeshauptstadt den Sowjets beim Verwalten half. Die Pagenkopfs, auf dem Papier eine Familie von drei Personen, bewohnten seit 1945 von neuem eine Etage von vier Zimmern, das machte böses Blut in einer gedrängt besetzten Stadt, und obendrein ließ Pius’ Vater sich so selten blicken in Gneez, daß selbst die Freundin seines Sohnes ihn bloß kennt aus Fotos von Tribünen und Zeitungsartikeln über die Partei Neuen Typus oder die jugoslawische Verschwörung. Von seinem nächtlichen Lebenswandel in Schwerin hieß es für gewiß, daß er da die Wahl hatte zwischen aparten Damen, jünger, auch wendiger im Gespräch als Frau Pagenkopf, eine Bauerntochter mit Grundschulabschluß, weswegen er ihr die IN -Karte zugeschoben hatte, die Lebensmittelkarte für die Intelligenz. Bei einem solchen Vater verstand es sich von selbst, daß Pius in der Gründungsversammlung der Freien Deutschen Jugend die Hand gleich hob, und mit einem solchen Vater im Rücken konnte Pius die Wahl in Funktionen der F. D. J. einfach von sich abschieben wie manch andere »gesellschaftliche Betätigung«, das besorgte schon Genosse Pagenkopf für seinen Sohn. Wen wollte es nun noch wundern, daß Pius seit der Eröffnung der

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