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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Klasse an. Kein Freund, eine Gewohnheit. Quirlig, zudringlich, anstellig, brauchbar. Aber Saitschik ließ das mit den Zetteln nicht. Das Spiel Schiffeversenken unter den Augen von Frau Habelschwerdt, Pius hatte ihm das ausgetrieben. Aber wenn ein Zettel von rechts gereicht wird, gilt es als Verstoß gegen die Kameradschaft, den Kopf zu schütteln, und leider war dieser an Pius selbst adressiert gewesen (Eva trägt schon einen …; Eva sündigte in einem Ford); Pius hatte die Botschaft kleingerissen und die Schnipsel liegen lassen auf den aufgeschlagenen Seiten. Die Lehrkraft nahte, das Buch wurde zugeschlagen, die berühmte Wolke zwischen den Tischbeinen bewies Pius’ Mangel an Gemeinschaftsgefühl. Nun mochte es sein, daß solch Gefühl Pius abging für die Unterrichtsgemeinschaft; wenn aber diese Empfindung eine Tugend bedeutete, eine öffentliche Tugend obendrein, so war es eine Schädigung, ihm die wegen Fremdverschuldens abzusprechen. Am schlimmsten aber, Haase Saitschik machte keinen Gebrauch von den Ehrbegriffen, zu denen ein Mitglied der Freien Deutschen Jugend sich bekennt, er drückte sich vor einer Aufklärung der Sache. Pius hatte dem die Tischgemeinschaft gekündigt, er stand allein. Die, der er das auseinandersetzte in mehrstöckiger Bedenklichkeit, die stand auch im Freien.
    So begann die erste Arbeitsgemeinschaft in der Fritz Reuter-Oberschule zu Gneez, zwei Jahre vor der amtlichen Einführung, und es war ein Skandal. Erstens, Plätze in der Klasse wurden getauscht zu Beginn des Schuljahres, nie mitten drin, es sei denn auf Verfügung einer Lehrperson. Zweitens, übrig gebliebene Schülerinnen oder Schüler haben für sich zu sitzen, oder allenfalls im vorderen Feld des Klassenraums können ein Mädchen, ein Junge neben einander geduldet werden. Und überhaupt … Cresspahls Tochter ging erst auf die Sechzehn, und Pius war eben siebzehn Jahre alt! Überdies stand der Tisch, an den Pius mit mir gezogen war, in der hintersten Ecke des Raums, schwer einzusehen vom Platz des Lehrers aus, und da Pius mir den Stuhl am Fenster eingeräumt hatte, deckte er mich noch zum Gang hin ab. Die Schule mochte neu sein, bis auf eben die meisten Lehrer und das Mobiliar und das Gebäude, dies blieb ein Verstoß gegen die guten Sitten, so junge Leute verschiedenen Geschlechts an einem Schultisch. Unerhört war es.
    »Angelina, du mußt warten …« wurde gesungen auf uns vor jener ersten Schulstunde nach den Weihnachtsferien, viel vorfreudiges Gekicher war um uns, denn erwartet wurde Herr Direktor Dr. Kliefoth, der galt für altmodisch, und richtig zuckte ihm bei unserem Anblick ein Augenwinkel, als hätte ihn da eine Fliege angegriffen. Er prüfte uns auf seine Art. Er begann mit Matschinsky, sprang nach C, als W dran gewesen wäre, nahm P dazu und lag dann entspannt gegen die Stuhllehne, die Hände im Schoß, anfangs mit strengem Schrägblick unter seinen steifen Brauen hervor. Die weiße starre Haarbürste auf seinem Schädel hielt ganz still, obwohl recht spärlich vorgeheizt war. Zu übersetzen hatten Pagenkopf und Cresspahl, abwechselnd, jenen Brief aus E. A. Poe’s »Goldkäfer«, der leider beginnt mit »My Dear« und Wendungen enthält, wie sie auch für einen Liebesbrief passen. Wir hatten zu tun mit dem nebligen Licht der Milchglaslampen, uns fehlte die Versuchung zum Kichern. Lise Wollenberg, unvorsichtig ob ihrer Kränkung, zwang sich einen Lachanfall ab; für Störung des Unterrichts bekam sie einen Eintrag ins Klassenbuch (heikel für eine Bürgerliche). Uns schrieb er jedem eine Eins an. Kliefoth war undurchsichtig, bürgerlich und militaristisch, als Direktor hingegen war er auch Fortschrittliche Intelligenz; nach seiner stillschweigenden Erlaubnis, was sollte die Habelschwerdt uns tun? Zu ihrem Glück fand sie die Änderung im Klassenspiegel noch verzeichnet in der Handschrift des Herrn Direktors; hochfahren sahen wir sie. Nie wieder konnte sie Pius eines Mangels an Gemeinschaftsgefühl überführen, und im nächsten Jahr lud sie uns schon ein zum Nachmittagskaffee: zusammen.
    Als das Gesinge und Gejohle losgegangen war um unseren neuen Tisch, hatte Pius die Augenbrauen zusammengezogen wie unter einem Schmerz und seine Lippen festgemacht wie in den Augenblicken, wenn er unterm Reck stand und von sich den Sprung erwartete. Dieser Mensch hat jeden Entschluß in seinem Leben durchgestanden. Weil er so hochmütig vor sich hin starrte, als genüge unsere bloße Absicht für Erfolg, verlor ich meine

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