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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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neuen Staatsläden H. O. alle drei Tage ein frisches Sporthemd trug, das Stück zu hundert Mark, und Lederschuhe, das Paar zu zweihundert Mark und zehn; er hielt sich ja adrett wie ein Bürgerlicher. Der Sohn eines solchen Vaters mochte sich Spaziergänge mit der Tochter eines Einzelhändlers (bürgerlich) leisten können, aber daß er zu Besuchen kam bei der Tochter eines Cresspahl, das grenzte doch wohl an Hochmut, und sie war ja auch nicht schlecht erschrocken, als sie ihn im Dezember 48 an der Tür fand, sonntäglich zur Kaffeezeit. Dann glaubte sie die Ausrede erkannt zu haben.
    Es war eine Klassenarbeit in Mathematik angedroht. Wenn einer sich schwach auf der Brust fühlt in Mathe, darf er wohl eine Mitschülerin aufsuchen, und sollte sie wohnen im entfernten Jerichow. Nun steht er vor ihr, ein glaubwürdiges Lächeln des Wiedererkennens in den Mundwinkeln, Befangenheit in den Augen, denn es könnte ja jemand auf den Gedanken geraten, er sei auf dem jerichower Marktplatz bloß umhergeirrt, um etwa Lise Wollenberg über den Weg zu laufen, statt weil ihm die Lage des Ziegeleiweges unerfindlich war (geradeaus, an der Petrikirche rechts). – Dobri djen, Gjesine: sagt er vorsichtig, fast bittend. Die kann auch russisch, die fragt: Kak djela, gospodin; sie holt ihn in Cresspahls Zimmer, ssaditjes; dann heißt es: na raswod, an die Arbeit! damit er endlich glaubt, daß ihm geglaubt wird. Das Gefühl dabei war kaum mitleidig, sondern dringend, so wie der Anblick einer fremden Wunde nach einer Binde verlangt. Bangigkeit war aber auch gegenwärtig, mit ihr der Gedanke: Ach du meine weite Heimat! was aus dem Russischen übersetzt bei uns genau hieß, dies sei einmal eine heikle Bescherung, und dies könne ja gut werden, nämlich unbequem.
    Aber Pius machte keine halben Sachen. Am Ende der Geometrie blieb mir die Frage im Halse stecken, und Pius beantwortete sie. Wir verständigten uns über unsere Väter, den jüngeren, der den Sowjets seine Dienste lieh, und den älteren, den die Sowjets in der Mache gehabt hatten, das hatten die beiden uns erlaubt, jeder für sich. Cresspahl merkte bloß an, Pagenkopf senior halte denen hoffentlich nur den eigenen Kopf hin. Nun fehlten nur noch ein paar Papierschnitzel und das Gemeinschaftsgefühl von Frau Habelschwerdt.
    Die Habelschwerdt (»der Hobel«) hatte vor einundzwanzig Jahren in Breslau ihr Abitur gemacht und richtig einen Oberlehrer für die Ehe erwischt; nun er »im Osten« vermißt war und sie ansaß mit halbwüchsigen Kindern, hatte sie sich unter ganz jungen Dingern zur Neulehrerin schulen lassen und gab uns Mathematik, Chemie, Physik. Die Jungen in der Klasse hielten sie ernstlich für »annehmbar« (»ausreichend für einen neuen Mann«), ihre Beine galten als »Eins-Minus« für ihre vierzig Jahre; ihren Spitznamen hatte sie sich zugezogen mit überscharfen Tadeln, von denen ihre enge Stimme überfordert war. Als Angehörige und noch als Hinterbliebene eines Belasteten (N. S. D. A. P.) strebte sie vielleicht zu ängstlich, wenigstens die Aufnahme eines Sohnes (»bürgerlich«) in die Neue Oberschule ins Trockene zu bringen, auch wünschte sie ihren Geldverdienst zu halten; sie hatte die Worte der Fortschrittlichen Pädagogik übereifrig gelernt und mochte manche bloß ungefähr verstehen. So hieb sie mit dem Stahllineal auf den Tisch (mehrmals, wie auf einen bösen Hund), als von Pius’ Platz Papierschnitzel in den Gang stoben, eine Woche vor Weihnachten; so rief sie ihm zu über alle neununddreißig Köpfe hinweg: Gerade du solltest hier Gemeinschaftsgefühl beweisen!
    Gerade du … in einer angelsächsischen Schule wäre wohl dies ihr Spitzname geworden. Eva Matschinsky wurde so ermahnt: Man legt nicht seine Fülle auf den Tisch, Eva Maria! Gerade du … Die Habelschwerdt war verblüfft von unserem Gelächter, sie hatte die jugendliche Fülle ihres eigenen Busens vergessen; sie hatte uns wie Eva erinnert daran, daß die Friseurstochter (rückständiger Mittelstand) ihre soziale Herkunft mit mindestens musterhaftem Betragen abzugelten hatte. Und gerade Pius sollte nur angenehm auffallen, wie es sich gehörte für seinen Vater (fortschrittliche Intelligenz). Und wegen des Funktionärs Pagenkopf ergab sie sich seufzend drein, daß Pius ihr, der Klassenlehrerin! eine Entschuldigung verweigerte. Nur ich wußte: es war Saitschik gewesen.
    Mit dem, Dagobert Haase, hatte Pius zu Beginn der Neun A Zwei einen Tisch genommen, wegen des gleichen Schulwegs von der ersten

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