Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Haus.
20. Juli, 1968 Saturday South Ferry Day
Am ausführlich gedeckten Tisch des Frühstücks (für D. E. die amerikanische Fassung), gegenüber dem festtäglich beschienenen Park, ist uns die New York Times in die Quere gekommen; fast wären wir abgerutscht in einen Streit. Es sind unter einer Brücke zwischen Cheb und Karlovy Vary zwanzig Maschinenpistolen amerikanischer Fertigung ausgegraben worden. In fünf Tornistern (oder Rucksäcken) mit dem Datum 1968. Dazu dreißig Pistolen passend mit der passenden Munition. In der Nähe der westdeutschen Grenze. Und die Pravda, Moskau, hat das gestern morgen senden können, bevor das tschechoslowakische Innenministerium den Fund überhaupt ansagen konnte. Für einen Professor Erichson ist dann gleich möglich, daß solche Waffenlager im ganzen Lande zum Finden bereitliegen und die Sowjetunion jeden militärischen Eingriff rechtfertigen könnte mit sudetendeutschen Aufständen; fragt man also diesen Fachmann, so würde er am ehesten Luftlandetruppen erwarten. Es saß aber eine am Tisch, die soll in vier Wochen reisen in jene Gegend, die will sie etwas weniger dunkel gemalen haben. Dann kam Maries Blick, schräg von unten, verblüfft über die neue Mode, bei uns würde Einem das Aussprechen seines Gedachten verwiesen; beide haben sie mich angesehen wie eine, die ist überarbeitet, die braucht einen Ausflug. Den sollen sie haben, aber unterwegs auch die Pagenkopfgeschichte hören, als Warnung, als Versprechen, wie sie es denn nehmen wollen.
»Kann denn Liebe Sünde sein?« Auch dies Lied, verräucherten Basses zelebriert von einer Schauspielerin der Nazis und wiederum eingesetzt zur Ablenkung der Deutschen vom Hunger, diesmal durch die Firma Sovexport, auf wen wurde das wohl gesungen in der gneezer Fritz Reuter-Oberschule vom Januar 1949 an? Das wurde getrommelt und gepfiffen auf die Tochter Cresspahls und Pius Pagenkopf. Wir waren Das Paar.
Auch Lise Wollenberg glaubte daran. Sie holte die Nichte von Frau Landgerichtspräsident Lindsetter an ihren Tisch, eine zierliche Blonde, die trotz ihres sanften Fleisches Peter genannt wurde, weil sie seit den Anfängen der sowjetischen Besetzung immer noch ihre Haare kurz schnitt. Das nahm sich apart aus neben Lises langen Locken. Von mir sagte die Wollenbergsche: bei so einem Vater sei die Cresspahl ja klug beraten, sich an die neue Herrschaft zu hängen.
Aber Frau Pagenkopf war keine vornehme Frau, elegant an Frisur und Kostüm, Aktivistensprüche auf den Lippen; krumm, dicklich, abgearbeitet sah sie mir aus, so sparsam angezogen wie Jakobs Mutter. Sie zog die Schultern zusammen, als sei viel Angst übrig aus den zwölf Hakenkreuzjahren und neue Sorgen lebendig wegen ihres Mannes schweriner »Lebenswandel«, wie die guten Leute von Gneez die politischen Betätigungen des Herrn Pagenkopf ja begreifen mußten. Die war zu schüchtern, als daß sie sich in den Renaissance-Lichtspielen, am Schluß der Vorführung, zu einer Ansprache hätte auf die Bühne stellen lassen (geschweige denn später am Anfang des Films, weil die Leute beim Anblick des Wortes »Ende« aus den Seitentüren drängten). Dabei las sie von der Schweriner Volkszeitung auch die erste Seite und hätte ihren Genossen gut buchstabieren können, was aus der S. E. D. nach der ersten Parteikonferenz vom Januar 1949 geworden war (Tatsächlich beriet sie uns bei Aufsätzen für Ge-Wi.) Die Nachbarn legten ihr das wortkarge Wesen aus als Rache für jene Zeiten, in denen die Pagenkopfs Leute gewesen waren, mit denen redet man besser nicht. Von mir sprach sie als »din Gesin«, im Ton zärtlichen Beklagens; zu mir sprach sie selten. Da aber Pius nun einmal mich ausgesucht hatte, fand sie alsbald einen Reim: Röbbertin sin Gesin. Auch hätte ich schreien müssen. Da ihre Harthörigkeit unheilbar geblieben war, wandte sie allen anderen als Pius das rechte Ohr zu statt die Augen; wer weiß, ob sie mir je ins Gesicht gesehen hat. Es war, als ob sie in der Küche wohnte; sichtbar war Pius’ Mutter am deutlichsten an den unentwegt geputzten Fenstern, den gebohnerten Dielen, den sorgfältig hergerichteten Wurstbroten, die Pius aus der Küche holte mit dem Tee. Ja, es gab Tee. Und auf den Scheiben war Butter, da die Pagenkopfs drei Karten hatten, und an den fünfundfünfzig Mark für das Pfund Margarine aus der H. O. hätte es in diesem Haushalt nie gefehlt. Der Belag war reichlich, ich habe im Osten seit 1949 nie wieder gehungert. Da hatte Lise recht, ich war
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