Jakob der Luegner
Russen auf dem Vormarsch sind, er hat es mit den eigenen Ohren gehört, und wenn es einen Gott im Himmel gibt, dann müssen sie auch bis zu uns kommen, und wenn es keinen gibt, dann müssen sie auch bis zu uns kommen, und möglichst viele Überlebende müssen sie antreffen, das ist es wert. Und wenn wir alle tot sein werden, dann war es ein Versuch, das ist es wert.
Bloß es muß ihm genug einfallen, sie werden immer neue Fragen stellen, sie werden Einzelheiten wissen wollen, nicht nur Kilometerzahlen, er muß die Antworten erfinden. Hoffentlich macht der Kopf mit, Erfinden ist nicht jedermanns Sache, bis jetzt hat er nur ein einziges Mal im Leben was erfunden, das ist Jahre her, ein neues Kartoffelpufferrezept mit Weißkäse und Zwiebeln und Kümmel, das kann man nicht miteinander vergleichen.
»Und außerdem ist wichtig, daß sie überhaupt vorwärts kommen«, sagt Kowalski nachdenklich. »Verstehst du, lieber langsam vorwärts als schnell zurück …«
Spät genug kommen wir zu Lina, unverantwortlich spät, denn sie ist für das alles von einiger Bedeutung, sie macht es erst rund, wenn davon die Rede sein kann, Jakob geht jeden Tag zu ihr, aber wir kommen jetzt erst.
Lina ist acht Jahre alt, lange schwarze Haare und braune Augen, wie es sich gehört, ein auffallend schönes Kind, sagen die meisten. Sie kann einen ansehen, daß man Lust bekommt, den letzten Bissen mit ihr zu teilen, aber nur Jakob tut es, manchmal gibt er ihr sogar alles, das kommt, weil er nie eigene Kinder gehabt hat.
Lina hat seit zwei Jahren keine Eltern, sie sind weggefahren, sie sind in den Güterzug gestiegen und weggefahren und haben das einzige Kind alleine zurückgelassen. Linas Vater ist vor knapp zwei Jahren auf der Straße gegangen, kein Mensch hat ihn darauf aufmerksam gemacht, daß er die verkehrte Jacke trug, die Jacke ohne Sterne. Es war Herbstanfang, er ist gegangen und hat an nichts Böses gedacht, spätestens auf der Arbeit hätten sie es gemerkt, aber so weit ist er gar nicht erst gekommen. Auf halbem Weg ist er einer Streife begegnet, ein aufmerksamer Blick hat genügt, nur Nuriel wußte ihn nicht zu deuten.
»Bist du verheiratet?« hat ihn einer der beiden gefragt.
»Ja«, hat Nuriel gesagt und ahnte nicht, was sie von ihm wollten mit ihrer seltsamen Frage.
»Wo arbeitet deine Frau?«
Da und da, hat Nuriel geantwortet. Sie sind auf der Stelle mit ihm hingegangen und haben die Frau aus der Fabrik geholt.
Sofort als sie ihn mit den beiden Männern gesehen hat, sind ihr die nackten Stellen auf Brust und Rücken von Nuriel aufgefallen, sie hat ihn entsetzt angeblickt, und Nuriel hat ihr gesagt: »Ich weiß auch nicht, was los ist.«
»Deine Sterne«, hat sie geflüstert.
Nuriel hat an sich heruntergeblickt, jetzt erst hat er gewußt, daß es sich um das Ende handelt, um das Ende oder kurz davor, ein weit kleinerer Grund hätte für das Ende genügt, lies die Ghettoverordnung. Sie sind mit Nuriel und seiner Frau nach Hause gegangen, unterwegs haben sie ihnen gesagt, was sie mitnehmen dürfen. Vor dem Haus hat Lina nicht gespielt, im Hausflur war sie auch nicht, die Mutter hatte ihr eingeschärft, daß sie nach Möglichkeit nicht soviel aus der Wohnung gehen soll. Aber man weiß ja nicht, was die Kinder den ganzen Tag treiben, während die Eltern arbeiten, ein Stoßgebet, daß sie dieses eine Mal unfolgsam sein möge.
Im Zimmer war sie auch nicht, sie konnte sich nicht wundern und fragen, was denn los ist, warum der Papa und die Mama jetzt schon nach Hause kommen, und die Männer hätten gewußt, daß Nuriel nicht nur eine Frau hat. Sie haben ihre paar Sachen eingepackt, die zwei Männer haben daneben gestanden und darauf geachtet, daß alles mit rechten Dingen zuging.
Nuriel hat sich benommen wie ein Traumwandler, bis ihn seine Frau angestoßen und ihm gesagt hat, daß er sich beeilen soll. Er hat sich jetzt auch beeilt, er hat ihre Aufforderung verstanden, jeden Augenblick konnte Lina in das Zimmer kommen.
Beim Hinuntergehen hat er durch ein Fenster im Treppenflur gesehen, daß Lina auf dem Hof spielte (das alles ohne Zeugen, aber vielleicht war es genau so und nicht anders).
Sie balancierte auf der kleinen Mauer zwischen den beiden Höfen, das hat er ihr wer weiß wie oft verboten, so sind Kinder eben. Eine Nachbarin, die in dieser Woche gerade Nachtschicht hatte, ist ihnen auf der Treppe begegnet, sie hat gehört, wie Nuriels Frau zu ihm gesagt hat, daß er nicht immerzu aus dem Fenster sehen soll, sondern auf
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