Jakob der Luegner
weiter, in Jakob wächst die Hoffnung, daß er sich täuscht, daß Kowalski gar nichts von ihm will, daß er mit zugegriffen hat, einfach weil er am nächsten stand, und die roten Punkte könnten doch von der Anstrengung sein oder Wanzenstiche. Daß man oft nicht auf das Naheliegendste kommt, schlechte Erfahrungen dürfen nicht alle Lauterkeit in Zweifel stellen, Kowalski hat auch seine guten Seiten, jede Menge Erinnerungen kann das belegen. Man war ja immerhin so gut wie befreundet. Jakob sieht den schwitzenden Kowalski schon freundlicher an, heimliche Abbitte im Blick, heimlich, weil auch die Vorwürfe zum Glück heimlich geblieben sind. Jede neue Kiste, die wortlos zum Waggon gebracht wird, führt ihn weg von dem Verdacht, der allem Anschein nach einem Unschuldigen gegolten hat.
Und plötzlich, nicht weit vor Mittag, stellt Kowalski seine hinterhältige Frage, ohne alle Vorbereitung und demütigend harmlos sagte er: »Na?«
Nichts weiter, Jakob zuckt zusammen, wir wissen, was gemeint ist. Im Nu ist alle Wut wieder da, Jakob fühlt sich getäuscht, die Punkte sind doch dieselben wie immer. Und Kowalski hat nicht zufällig in der Nähe gestanden, er hat auf ihn gewartet, er hat ihm aufgelauert, auf dieses schändliche »na?« hat er den ganzen Tag hingearbeitet. Er hat bis zu diesem Augenblick nicht aus Rücksicht geschwiegen, Kowalski hat keine Ahnung, was das ist, er hat geschwiegen, weil er gesehen hat, daß Jakob mit Mischa ins Streiten kam, und er hat nur auf einen günstigen Zeitpunkt gewartet, kalt und berechnend wie er ist, Jakob sollte sich in Sicherheit wiegen.
Jakob zuckt zusammen, das Schlimmste an diesem Ghetto ist, daß man sich nicht einfach umdrehen kann und weggehen, es ist nicht ratsam, dieses Spiel alle fünf Minuten zu wiederholen.
»Gibt’s was Neues?« fragt Kowalski deutlicher. Er hat keine Lust, sich auf lange Blickwechsel einzulassen, wenn du mein »na?« nicht kapierst, denn eben so.
»Nein«, sagt Jakob.
»Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, daß im Krieg an einem ganzen Tag nichts passiert ist? Ein ganzer Tag und eine ganze Nacht?«
Sie stellen die Kiste auf dem Waggonrand ab, gehen zurück zum Stapel, und Jakob holt tief Luft, und Kowalski nickt ihm aufmunternd zu, und Jakob verliert die Beherrschung und wird lauter, als man es gutheißen kann.
»Menschenskind, laß mich endlich in Frieden! Hab ich dir nicht gestern gesagt, daß sie zwanzig Kilometer vor Bezanika sind? Reicht dir das nicht?«
Natürlich reicht es Kowalski nicht, wenn die Russen zwanzig Kilometer vor irgendeinem Bezanika sind, und er ist hier, wie sollte ihm das reichen, aber er hat keine Zeit für logische Volltreffer, im Moment nicht, er sieht sich erschrocken um, weil Jakob nicht gerade vorsichtig war. Wirklich steht ein Posten da, ganz in der Nähe, sie müssen an ihm vorbei, und er blickt schon. Die Uniform steht ihm nicht gut, er ist viel zu jung für sie, er ist schon ein paarmal aufgefallen, er hat ein großes Maul, aber er schlägt noch wenig.
»Was habt ihr Drecksäcke euch zu streiten?« fragt er, als sie an ihm vorbeigehen wollen. Jedenfalls hat er nichts Genaues gehört, nur laute Worte, die sind schnell erklärt.
»Wir streiten uns nicht, Herr Posten«, sagt Kowalski laut, »ich bin nur etwas schwerhörig.«
Der Posten hat was zu mustern und auf den Zehenspitzen zu wippen, dann dreht er sich um und geht weg. Kowalski und Jakob holen sich eine neue Kiste, der Zwischenfall wird mit keinem Wort gewürdigt.
»Ein ganzer Tag ist vergangen, Jakob. Vierundzwanzig lange Stunden. Wenigstens ein paar lumpige Kilometer werden sie doch weitergekommen sein?«
»Ja, drei Kilometer nach den neuesten Meldungen.«
»Und da tust du so gleichgültig? Jeder Meter zählt, sag ich dir, jeder einzelne Meter!«
»Was sind schon drei Kilometer«, sagt Jakob.
»Du bist gut! Für dich ist es vielleicht nicht viel, du hörst jeden Tag Neues. Aber drei Kilometer sind drei Kilometer!«
Es ist ausgestanden, für heute gibt Kowalski Ruhe, er ist wieder stumm wie Fajngold, er hat erfahren, was er wollte.
Jakob gesteht sich, daß es nicht so schlimm war, es ist ihm eigentlich leicht über die Lippen gegangen, er hat es mir lang und breit erklärt, es war ein wichtiger Augenblick für ihn, hat er gesagt. Die erste Lüge, die vielleicht gar keine war, so klein nur, und Kowalski ist zufrieden. Das ist es wert, die Hoffnung darf nicht einschlafen, sonst werden sie nicht überleben, er weiß genau, daß die
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