Jakob der Luegner
zwei-oder dreimal flüchtig begegnet sind, er wußte nicht einmal meinen Namen.
Ich kenne ihn eigentlich nur aus Jakobs spärlichen Worten, er hat ihn fast nur am Rande erwähnt, mich aber neugierig gemacht, Kirschbaum spielt für das Ganze hier keine große Rolle, vor allem hat er Lina gesund gemacht.
Kirschbaum war vor Jahren eine Berühmtheit, nichts in der Art von Rosas Vater, eine regelrechte Berühmtheit mit Stempel und Unterschrift und tausend Ehrungen, Chef eines Krakauer Krankenhauses, gesuchter Herzspezialist.
Vorträge an Universitäten in aller Welt, fließend Französisch, Spanisch und Deutsch, er soll mit Albert Schweitzer in lockerem Briefwechsel gestanden haben. Wer sich von ihm heilen lassen wollte, der mußte schon allerhand anstellen, die Würde des geachteten Mannes trägt er heute noch mit sich herum, ohne eigenes Zutun. Auch die Anzüge aus bestem englischem Stoff, mit der Zeit etwas abgeschabt an Ellenbogen und Knien, aber nach wie vor tadellos im Sitz, durchweg dunkel gehalten als wirkungsvollen Kontrast zu seinen schneeweißen Haaren.
Kirschbaum hat nie einen Gedanken daran verschwendet, daß er Jude ist, schon sein Vater war Chirurg, was ist das schon, jüdische Herkunft, sie zwingen einen, Jude zu sein, und man selbst hat gar keine Vorstellung, was das überhaupt ist. Jetzt sind um ihn herum lauter Juden, zum erstenmal in seinem Leben nichts als Juden, er hat sich den Kopfüber sie zerbrochen, er wollte herausfinden, was es ist, wodurch sie sich alle gleichen, vergeblich, sie haben untereinander nichts Erkennbares gemein, und er mit ihnen schon gar nicht.
Für die meisten ist er ein bißchen Wundertier, Kirschbaum behagt das nicht, lieber Freundlichkeit als Respekt, er versucht, sich zu arrangieren. Ungeschickt stellt er sich an dabei, wo doch jeder Besonderes von ihm erwartet, und er hat so gar keinen Humor, mit dem sich etwas ausrichten ließe.
Er kommt in die Dachkammer, er bringt einen Topf voll Suppe für Lina mit, seine Schritte federn wie mit Dreißig, der Tennisklub hat ihn jung gehalten.
»Guten Abend allerseits«, sagt er.
»Guten Abend, Herr Professor.«
Jakob steht vom Bett auf, er macht Platz für Kirschbaum, der Lina gleich abhorchen wird, sie zieht schon das Hemd aus, die Suppe ist noch zu heiß, jedesmal wird vorher untersucht. Jakob geht zum Fenster, es steht offen, ein kleines Bodenfensterchen, und doch kann man die halbe Stadt sehen. Vielleicht ein Sonnenuntergang, die Häuser in Grau und Gold, und viel Frieden. Die Russen werden alle Straßen entlangziehen, keine einzige wird ausgelassen, die verfluchten Sterne kommen von den Türen und werden helle Flecken hinterlassen wie häßliche Bilder, die zu lange an der Wand gehangen haben und wohlverdient in den Müll wandern. Endlich hat man wie die anderen ein wenig Zeit für rosige Gedanken, als ob Kowalski einem das Wunder erzählt hätte. Daß die Zukunft irgendwo da unten versteckt liegt, keine großen Abenteuer mehr, sollen sich die Jünglinge hineinstürzen, sicher muß die Diele frisch angestrichen werden, eventuell ein paar Tische neu dazu, womöglich gibt es sogar eine Lizenz für den Schnapsausschank, auf die damals so gut wie keine Aussicht war, man wird sehen.
Im Vorratsraum könnte man das Zimmer für Lina herrichten, hoffentlich platzen nicht irgendwelche Verwandte herein und wollen sie holen, nur die Eltern kriegen sie, aber ob es die noch gibt. Sie wird nächstes Jahr zur Schule kommen, lächerlich, eine junge Dame von neun Jahren in der ersten Klasse. Die erste Klasse wird voll sein von zu großen Kindern, vielleicht lassen sie sich etwas einfallen, damit sie nicht soviel Zeit verlieren. Nicht schlecht wäre, wenn man ihr schon vorher etwas beibringen würde, wenigstens Lesen und ein bißchen Rechnen, warum ist einem das nicht früher eingefallen, soll sie erst gesund werden.
»Jetzt kann ich es euch ja sagen«, sagt Kirschbaum. »Es hat ziemlich böse um diese junge Dame ausgesehen. Aber bei artigen jungen Damen läßt sich meistens etwas machen. Wir haben den Schaden ziemlich ausgebessert. Tief Luft holen und anhalten!«
Im Schrank unten liegt ein altes Buch, eine Reisebeschreibung über Afrika oder Amerika, die könnte man gut zum Lesenlernen nehmen, es sind wohl sogar ein paar Bilder drin.
Man muß es ihr irgendwie schmackhaft machen, denn wenn sie keine Lust hat, kann man sich auf den Kopf stellen. Sobald es geht, werde ich sie adoptieren, vorher natürlich nach den Eltern forschen, ohne
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