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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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daß sie es erfährt, adoptieren soll nicht so einfach sein, eine Menge Formalitäten und Behörden, ist man auf die alten Tage noch zu einem Kind gekommen. Die Deutschen haben ihren Anteil daran, und die Russen haben ihren Anteil daran, wer den größeren? Ich werde ihr sagen, daß jetzt Schluß ist mit dem ewigen Märchenerzählen, nicht immer bloß Prinzen und Hexen und Zauberer und Räuber, die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, du bist alt genug, das hier ist ein A. Sie wird todsicher fragen, was das bedeutet, ein A, sie wird wissen wollen, wozu man es braucht, sie ist sehr praktisch veranlagt, in ihrem Alter sind Fragen das halbe Leben, es können harte Zeiten kommen.
    Sie ist als Kind schon acht Jahre alt, und ich bin als Vater erst knappe zwei.
    Kirschbaum hält das Stethoskop an ihre Brust und horcht angestrengt, und auf einmal tut er sehr verwundert, sieht Lina groß an und fragt: »Nanu, was ist denn das? Da drin pfeift doch etwas?«
    Lina sieht amüsiert zu Jakob, und der macht weiter, er hat gar nicht gemerkt, wie er angefangen hat, aber jetzt macht er weiter, er wird doch Kirschbaum den mageren Scherz nicht verderben, und Lina lacht über den dummen Professor, der gar nicht begreift, daß das Pfeifen nicht aus ihrer Brust kommt, sondern von Onkel Jakob.

    Wieso werfen große Ereignisse ihre Schatten voraus, fragt man sich, weit und breit kein Schatten, ein paar belanglose Tage vergehen, belanglos für die Geschichtsschreiber.

    Keine neuen Verordnungen, kein äußeres Ereignis, nichts Handfestes, nichts, woraus man auf Änderung schließen könnte. Einige wollen bemerkt haben, daß die Deutschen zurückhaltender geworden sind, einige sagen, weil rein gar nichts geschieht, das ist die Ruhe vor dem Sturm. Doch ich sage, die Ruhe vor dem Sturm ist gelogen, rein gar nichts ist gelogen, der Sturm ist schon da oder etwas davon, das Raunen in den Zimmern, wenn gebangt wird und spekuliert, gehofft und gebetet, die große Zeit der Propheten ist angebrochen. Wenn zwei sich streiten, dann streiten sie über Pläne, meiner ist besser als deiner, gepackt sind sie alle, alle wissen schon von dem Unfaßbaren. Wer es noch nicht weiß, der muß ein Eremit sein, nicht jeder kennt die Herkunft der Nachricht, dazu ist das Ghetto zu groß, aber die Russen sind in jedem Kopf. Alte Schulden beginnen eine Rolle zu spielen, verlegen werden sie angemahnt, Töchter verwandeln sich in Bräute, in der Woche vor dem Neujahrsfest soll Hochzeit gehalten werden, die Leute sind vollkommen verrückt, die Selbstmordziffern sinken auf Null.
    Wer jetzt noch erschossen wird, so kurz vor Schluß, der hat plötzlich eine Zukunft verloren, um Himmels willen nur keinen Grund mehr geben für Majdanek oder Auschwitz, sofern Gründe Bedeutung haben, Vorsicht, Juden, höchste Vorsicht und keinen unüberlegten Schritt.
    Es gibt längst zwei Parteien mitten durch die Häuser, Jakob hat nicht nur Freunde, zwei Parteien ohne Satzungen, aber mit gewichtigen Argumenten und Plattform und Überredungskunst. Die einen fiebern nach Neuigkeiten, was ist letzte Nacht geschehen, wie hoch sind die Verluste auf jeder Seite, keine Meldung ist so klein, daß man aus ihr nicht dieses und jenes schlußfolgern könnte. Und die anderen haben genug gehört, die Partei von Frankfurter, für sie ist dieses Radio eine Quelle ständiger Gefahr, Jakob könnte sie so leicht beruhigen, ich höre ihre Bedenken auf dem Bahnhof und auf dem Heimweg und im Haus. In eurer Einfalt redet ihr euch und uns um Kopf und Kragen, warnen sie, die Deutschen sind nicht taub und nicht blind. Und die Ghettoverordnung ist kein Vorschlag für gutes Benehmen, dort steht schwarz auf weiß geschrieben, was es heißt, Radio zu hören, dort steht auch, was mit denen geschieht, die wissen, daß einer hört, und keine Meldung machen. Gebt also Ruhe und wartet still in eurer Ecke, wenn die Russen hier sind, dann sind sie hier, ihr werdet sie nicht herbeischwatzen.
    Und vor allem hört auf, von diesem unglückseligen Radio zu reden, von diesem möglichen Grund für tausend Tode, man sollte es lieber heute vernichten als morgen.
    Das ist die Lage, Jakob hat also nicht nur Freunde, aber er merkt es nicht, er kann es auch gar nicht erfahren. Die sich um ihn drängen, die Wißbegierigen, die hundert Kowalskis, die werden sich hüten, es ihm zu sagen, denn Jakob könnte Bedenken kriegen und es sich anders überlegen und plötzlich anfangen zu schweigen, lieber schweigen sie selbst. Und die Warner sagen es ihm

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