Jakob der Luegner
nicht, Herschel hat gleich am Morgen einen kleinen Unfall gehabt, er ist beim Kistentragen gestolpert, Roman konnte die Kiste alleine nicht halten, Kiste und Herschel sind auf die Erde gefallen. Herschel hat die üblichen Schläge eingesteckt, aber das war nicht das Schlimmste, er hat sich beim Stolpern einen Fuß verstaucht, konnte kaum noch laufen, konnte also auch nicht mit Roman weitertragen, und deshalb steht er jetzt mit mir auf dem Waggon.
Er schwitzt wie ein Wasserfall, ich habe noch nie jemand so schwitzen sehen, er wird erst aufhören zu schwitzen, wenn die Russen dieses verfluchte Ghetto genommen haben, keinen Tag früher. Denn Herschel Schtamm ist fromm. Zu Lebzeiten war er Diener in einer Synagoge, wir nennen das Schamess, fromm wie der Rabbiner selber. Und da sind die Schläfenlocken, Zierde aller strenggläubigen Juden, geh und frag Herschel, ob bereit ist, sich von ihnen zu trennen Für kein Geld, wird er dir sagen, er wird dich ansehen wie einen Verrückten, wie kannst du ihn so etwas fragen.
Doch die Löckchen dürfen nur in den eigenen vier Wänden ans Licht, bloß da, auf der Straße und hier auf dem Bahnhof trifft man Deutsche, die nichts davon halten, wo leben wir denn daß man in einem solchen Aufzug herumläuft. Es sind Fälle bekannt, wo einfach die nächste Schere geholt wurde, bei heimlichen Gebeten und Lachtränen hat man die Sache an Ort und Stelle erledigt, aber es sind auch schlimmere Fälle bekannt.
Herschel hat die einzig mögliche Konsequenz gezogen, er versteckt seine Löckchen, er schmuggelt sie durch die Zeit.
Er trägt Sommer wie Winter eine Mütze, Mützen wird man wohl noch tragen dürfen, eine schwarze Fellmütze mit Klappen an beiden Ohren, die unter dem Kinn zusammenzuknöpfen sind. Sie ist bei Sonne entsetzlich heiß, es war die einzige, die er sich beschaffen konnte, aber für seine Zwecke hervorragend geeignet. Wir Nichtfrommen haben nur in der ersten warmen Woche gelächelt und unsere Witzchen gemacht, sein Bruder Roman auch, dann ist unser Interesse erloschen, Herschel muß selber wissen, was er tut.
Wir stellen eine Kiste ganz oben hinauf, er wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht, er fragt mich, während wir die nächste nehmen, was ich von der Sache halte. Mir ist klar, wovon er redet, ich sage ihm, daß ich schon ganz blöd bin vor Freude, ich kann an nichts anderes mehr denken. Alles wird mir wieder gehören, was ich früher einmal hatte, alles bis auf die erschossene Chana. Es wird wieder Bäume geben, im Garten meiner Eltern sehe ich mich auf dem Nußbaum sitzen, auf so dünnen Ästen, daß meine Mutter am liebsten in Ohnmacht fallen möchte, gleich oben freß ich mich voll mit Nüssen. Die Finger werden so braun von der Schale, daß es erst nach Wochen wieder abgeht, aber Herschel sieht mir nicht sehr begeistert aus.
Jakob und Mischa stellen eine Kiste auf den Waggonrand.
Wozu die Hast, Jakob macht große Schritte zurück zum Stapel, und Mischa beeilt sich hinter ihm her. Seit gestern ist Jakob ein Glückspilz, ein Auserwählter, alles reißt sich um ihn, die Riesen wie die Kleinen, jeder will mit ihm arbeiten, mit dem Mann, der eine direkte Leitung zum lieben Gott hat. Mischa war der erste in der Schlange, der erste, der mit zugepackt hat, als Jakob eine Kiste ins Auge faßte, und jetzt läuft er hinter ihm her.
Am gerechtesten wäre, man könnte ihn verlosen, soundso viel Nieten und ein Hauptgewinn, dann hätten alle die gleichen Aussichten auf das große Glück, auf Jakobs mit einemmal bedeutungsvoll gewordene Nähe. Nur Jakob macht ein mürrisches Gesicht, besten Dank für so ein Glück, fünfmal oder zehnmal ist er schon seit dem Morgen gefragt worden, was das Radio denn so plaudert, vertraulich und voller Hoffnung, sogar von wildfremden Menschen. Fünfmal oder zehnmal hat er nicht gewußt, was er antworten sollte, hat nur wiederholt, was er gestern schon gesagt hat, Bezanika, oder er hat nur die Finger auf den Mund gelegt und mit Verschwörerton »pssst!« gesagt oder gar nichts gesagt und ist ärgerlich weitergegangen. Und den ganzen Ärger hat ihm dieser lange Dummkopf eingebrockt, der jetzt so ahnungslos hinter ihm hertrottet, in unverdienter Vorfreude, das konnte sich keiner vorher ausrechnen. Sie benehmen sich wie die Kinder, sie schwirren um einen herum wie die Ausgehlustigen um die Litfaßsäule, wenn nicht ein Wunder geschieht, wird es höchstens noch Stunden dauern, bis die Posten etwas merken. So einen Andrang wünschte man sich in
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