Jakob der Luegner
erst recht nicht, sie schicken keine mahnende Abordnung zu ihm, das wäre viel zu riskant. Sie machen einen großen Bogen um Jakob, denn keiner soll je aussagen können, er hätte sie in seiner Nähe gesehen.
Der gelockte Herschel Schtamm zum Beispiel ist einer von den anderen, von denen, die nichts mehr hören und sehen wollen und keine Mitwisser sein. Wenn wir auf dem Bahnhof hinter vorgehaltener Hand die neuesten Erfolge der Russen auswerten, frisch aus Jakobs Mund, stellt er sich ein paar Schritte abseits, aber nicht so sehr weit, ich schätze auf Hörweite. Es soll nur kein Gespräch sein, an dem er nach außen hin teilnimmt, das ist seine schnell durchschaute Sorge. Die Augen Herschels wandern dann gleichgültig über die Gleise, oder sie treffen einen von uns mit mißbilligender Schärfe, doch es ist nicht ausgeschlossen, daß seine Ohren unter der schweißtreibenden Fellmütze spitz werden wie die eines Hasen.
Die Stromunterbrechung, die aus Jakobs Radio für Tage einen lebensgefährlichen Staubfänger macht, hält er für sein persönliches Verdienst. Er behauptet das zwar nicht in der Öffentlichkeit, Herschel ist nicht der Mann, der sich gerne brüstet, wir wissen es von seinem Zwillingsbruder Roman, der jeden Abend und jeden Morgen mit ihm in einem Zimmer verbringt und jede Nacht in einem Bett, der muß es schließlich wissen. Als wir Herschel fragen, wie er das Kunststück angestellt hat, eine Stromsperre in mehreren Straßen und über mehrere Tage hinweg ist kein Kinderspiel, wird sein Gesicht milde, fast ein Lächeln nach gerade so überstandener Gefahr, aber er schweigt sich aus. Und da fragen wir: »Wie war das, Roman?
Wie hat er es angestellt?«
Die Minuten vor dem Schlafengehen, berichtet Roman, sind ausgefüllt mit Gebeten, still in einer Ecke, nicht erst seit dem Radio, alte Gewohnheit. Roman wartet geduldig im Bett, bis man die gemeinsame Decke über den Kopf ziehen kann, er verlangt von Herschel längst nicht mehr, daß er sich beeilen soll und endlich schlafen kommen, er ist belehrt worden, daß Gebete und Eile nichts miteinander zu tun haben dürfen. Er achtet nicht auf das eintönige Gemurmel, das gesungene, es hätte keinen Sinn, Roman versteht kein Wort Hebräisch, doch seit einiger Zeit dringen auch vertraute Laute an sein Ohr. Seit Herschel konkrete Eingaben an den lieben Gott zu versenden hat, nicht mehr nur das übliche fromme Zeug von beschützen und alles irgendwie zum Guten wenden, bedient er sich öfter und öfter der allgemein verständlichen Sprache.
Bruchstückweise kann Roman jetzt erlauschen, was seinen Bruder bewegt und quält, nichts Außergewöhnliches, wenn man selber beten würde, hätte man auch nicht viel anderes zu sagen.
Abend für Abend kriegt Gott von Hunger erzählt, von Angst vor Deportation und Schlägen der Posten, was unmöglich alles mit seiner Billigung geschehen kann, er möge doch gütigst zusehen, was sich da machen ließe, nach Möglichkeit schnell, es eilt, und er möge auch ein Zeichen geben, daß man verstanden worden sei. Lange hat das Zeichen auf sich warten lassen, für Herschel eine glänzend bestandene Probe in Standfestigkeit, der jeweils nächste Tag ist vergeblich nach Gottes änderndem Eingriff durchforscht worden. Bis es doch gekommen ist, das ersehnte Zeichen, unverhofft wie alle himmlische Aktion und so gewaltig, daß sogar den Ungläubigsten das zweifelnde Wort auf den Lippen ersterben mußte.
Von dem Radio ist an jenem Abend die Rede, von dieser im Augenblick alles beherrschenden Sorge, Herschel erklärt Gott haarklein die unabsehbaren Folgen, wenn Gedankenlosigkeit und mangelnde Vorsicht die Schwätzer ein deutsches Ohr übersehen lassen, und schon ist es passiert, die Schwätzer werden nach geltendem Gesetz zur Verantwortung gezogen, und auch die schweigenden Mitwisser. Und es wird behauptet werden, daß wir alle Mitwisser sind, daß die Neuigkeit um keinen einen Bogen gemacht hat, sie werden sogar recht damit haben. Außerdem muß es nicht einmal ein deutsches Ohr sein, das zufällig in der Nähe steht, es gibt auch getarnte deutsche Ohren, nur du weißt, wieviel Spitzel unter uns herumlaufen.
Oder einer will die eigene Haut retten und verrät es aus eigenem Antrieb, Lumpen gibt es überall, auch das weißt du, ohne dein Einverständnis wären sie nicht auf der Welt. Laß nicht zu, daß uns so kurz vor Schluß noch das große Unglück zustößt, wo du schon all die Jahre deine schützende Hand über uns gehalten und das Ärgste
Weitere Kostenlose Bücher