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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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Komm, erinnern wir uns an Chaim Balabusne mit der dicken Nickelbrille und dem kleinen Lädchen, in dem wir immer unsere Zigaretten gekauft haben, das heißt den Tabak, um sie daraus zu drehen. Sein Geschäft war deinem näher als meins und meinem näher als deins, es hat genau zwischen unseren gelegen, trotzdem sind wir nie richtig warm mit ihm geworden, aber das war seine Schuld. Weil er sich nichts aus Puffern und Eis gemacht hat und nichts aus Haareschneiden und Rasieren. Viele haben gesagt, er läßt seine roten Haare aus Frömmigkeit so lang wachsen, aber ich weiß es besser, es war aus Geiz, aus nichts anderem. Na ja, egal, über Tote soll man nichts Schlechtes denken, Balabusne hat immer eine schöne Auswahl gehabt, Zigarren, Pfeifen, Etuis mit Blümchen, Zigaretten mit Goldmundstück für die Reichen, wollte uns immer zu einer teureren Sorte überreden, aber wir sind bei »Excelsior« geblieben. Und der Ständer mit dem Gasflämmchen und dem Zigarrenabschneider auf seinem Ladentisch, der Ständer aus Messing, den er geputzt hat, sooft man zu ihm in den Laden gekommen ist, an diesen dummen Ständer erinnert man sich jedesmal, wenn man an früher denkt, obwohl man höchstens einmal die Woche seinen Tabak gekauft und dabei den Ständer nie benutzt hat.
    »Denkst du auch an Chaim Balabusne?«
    »Wie kommst du auf Chaim Balabusne?«
    »Einfach so. Vielleicht durchs Rauchen.«
    »Ich denke an gar nichts.«

    Der letzte Zug wird getan, noch einer mehr, und man verbrennt sich die Lippen. Der Rauch hat die Lungen herrlich angekratzt und den Kopf ganz benommen gemacht wie nach ein paar reichlichen Gläschen, die Welt dreht sich gemächlich um einen im Kreis, aber man sitzt gut und hat die Hände auf dem Tisch. Ein bißchen Seufzen, ein bißchen Stöhnen, der Rauch schwimmt noch im Zimmer, Kowalski sagt: »Und jetzt zur Sache, Jakob. Wie sieht es draußen aus? Was hört man von den Russen?«
    Jakob bleibt gefaßt, es war sowieso nur eine Frage der Zeit, wann Kowalski auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen kommen würde, die Zigarette konnte niemanden täuschen. Jetzt hockt keine Lina mehr im Hintergrund, jetzt kann man offen reden, die Antwort haben wir uns schon zurechtgelegt für dich und deinesgleichen, mach dich auf was gefaßt. Also her mit dem verzweifelten Gesicht, her mit den traurig hängenden Schultern, jetzt kommt der letzte Akt in unserem Fragespiel, Kowalski, der wird dir nicht gefallen. Doch darauf kann man keine Rücksicht mehr nehmen, Kowalski, lange genug hat man es getan, man ist auch bloß ein geplagter Mensch.
    »Ich wollte es dir nicht sagen …«
    »Sie werden zurückgeschlagen!« schreit Kowalski.
    »Nein, nein, so schlimm nicht.«
    »Was denn sonst? Rede doch endlich!«
    »Stell dir vor«, sagt Jakob leise und tadellos betrübt, »vorhin setze ich mich an meinen Apparat und drehe am Knopf, wie ich es immer tue, aber kein einziger Ton kommt heraus.
    Verstehst du das, gestern spielt er noch, nicht zu übertreffen, und heute schweigt er sich aus. Da kann man nichts machen, mein Lieber, so ein Radio ist ein unbegreifliches Ding, und jetzt ist es kaputt.«
    »Gütiger Gott!« ruft Kowalski entsetzt, schon zum zweitenmal an diesem Abend ruft Kowalski »gütiger Gott!« und schlägt sogar die Hände wieder zusammen, wahrscheinlich weil eins bei ihm ohne das andere nicht geht.
    »Was zu rauchen müßte man haben«, sagt Jakob sehnsüchtig, denn es ist der nächste Tag, die Zigarette, die Juno ohne Mundstück, lebt nur noch in der Erinnerung. Er steht auf einem Güterwagen, bei einer Jontefarbeit, so kann man sie getrost nennen, er nimmt uns Juden die Säcke ab, die man uns heute zu tragen beschert hat. Wir bringen ihm die zentnerschweren Säcke über fünfzig oder noch mehr Meter, er muß sie bloß bis zur Wagenwand schaffen und sie dort sinnvoll anordnen, deswegen Feiertagsarbeit, und auch deswegen, weil sie zu zweit sind, Jakob und Leonard Schmidt.
    Der Tag, das nebenbei, hat mit Verwunderung unsererseits angefangen, als sie uns zeigten, was heute zu tun wäre, haben wir uns erstaunt angesehen und gedacht, die wissen auch nicht, was sie wollen. Denn vor gut zwei Wochen ist ein ganzer Zug mit Zementsäcken angekommen, als ob sie Häuser bauen wollten, wir haben sie Stück für Stück abgeladen und mit Planen zugedeckt, und heute heißt es plötzlich, die Säcke wieder auf die Waggons. Ihre Sache, wir laden die Säcke gehorsam zurück, ganz wie sie wollen, wir schleppen sie zu den

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