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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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die Unterlippe, die geschwollene, vor, er ist mit einem Verdacht gekommen, an dem Wahres zu sein scheint, er sagt: »Weißt du, Jakob, mir ist aufgefallen, daß du immer unfreundlich wirst, sogar aufgeregt, wenn ich dich um Neuigkeiten bitte. Von alleine sagst du mir nie was, also muß ich dich fragen, und kaum frag ich, schon wirst du wütend. Das will mir nicht in den Kopf rein, ich verstehe nicht, wo da die Logik steckt. Stell dir den umgekehrten Fall vor, Jakob, wenn ich das Radio hätte, und du hättest keins, würdest du mich dann nicht auch fragen?«
    »Bist du verrückt? Vor dem Kind!«
    Jakob springt auf und dreht sich zum Fenster, Lina hat genug gehockt und gelauscht, sie kommt verabredungsgemäß aus ihrem unbequemen Versteck, er hat sie ja gewissermaßen gerufen, sie strahlt über das ganze Gesicht.
    »Gütiger Gott!« stammelt Kowalski erschrocken und schlägt die Hände zusammen, aber keiner kümmert sich um ihn, das ist eine Angelegenheit zwischen Jakob und Lina.
    Sie wechseln Blicke, Lina zwinkert, da bist du schön aufs Maul gefallen, damit hast du wohl nicht gerechnet. Jakob trennt sich von der leisen Hoffnung, sie könnte nichts gehört haben, weil doch Kinder oft wer weiß wo mit ihren Gedanken sind, oder es wenigstens nicht verstanden, sie ist ein aufmerksames Luder, sie zwinkert, und schon ist alles klar. Das gibt ein gewaltiges Stück Nachdenken, bis man das neue Malheur in Ordnung bringt, jeden Tag ein neues, wieder nichts mit Horchen auf Kanonendonner in der Nacht. Aber noch ist nicht Nacht, noch steht Lina einem gegenüber und genießt den kleinen Triumph, den ihr der Trottel von einem Kowalski so fahrlässig bereitet hat, man kann nicht Wurzeln schlagen und endlos Blut und Wasser schwitzen, man muß irgendein Lebenszeichen von sich geben.
    »Geh jetzt nach oben, Lina. Ich komme nachher noch zu dir rauf«, sagt Jakob matt.
    Zuerst geht sie einmal zu ihm, holt seinen Kopf zu sich herunter, Jakob denkt, es geschieht für den Kuß, der zu jedem noch so kurzen Abschied gehört. Aber er kann denken, was er will, Lina steht der Sinn nicht nach Küssen, jetzt nicht, sie holt sich den Kopf, weil an dem die Ohren dran sind, in eins von ihnen flüstert sie: »Von dir wissen es alle. Du hast doch geschwindelt!«
    Dann ist sie draußen, Jakob und Kowalski sitzen wieder am Tisch, Kowalski in Erwartung einer Flut von Vorwürfen, und fühlt sich vollkommen unschuldig. Denn nichts wäre passiert, wenn Jakob sein Kind nicht vor ihm versteckt hätte, vor seinem besten Freund. Und wenn er sie schon versteckt, weil er nicht wissen kann, wer an die Tür klopft, dann hätte er sie herauslassen müssen, als er gesehen hat, wer da gekommen ist.
    Aber nein, er läßt sie in ihrem Winkel, wahrscheinlich hat er sie vergessen, ich frage dich, wie kann man ein Kind vergessen?
    Schließlich ist man kein Hellseher, und jetzt ist er böse und wird gleich mit seinen Beschuldigungen anfangen.
    »Das hast du großartig gemacht! Nicht genug, daß schon das ganze Ghetto davon quatscht, jetzt weiß sie es auch noch!« sagt Jakob tatsächlich.
    »Entschuldige schon, ich konnte sie beim besten Willen nicht sehen. Mit dem Auge …«
    Kowalski zeigt auf seine Augen, Jakob kann sich eins aussuchen, beide sind sie chinesisch schmal, ein kräftiges Blau umrahmt sie wirkungsvoll. Ja, Kowalski zeigt auf seine Augen, dezente Erinnerung an eine Lebensrettung am Vormittag, deutlicher braucht man nicht zu werden, wenn hier Vorwürfe zu machen sind, dann fragt sich noch wer wem.
    Oder wir sind alle zwei ein bißchen großzügig, vergessen alte Geschichten, die doch nicht mehr zu ändern sind. Und der Anschlag glückt, die Augen wirken vortrefflich, sofort schlägt die Stimmung am Tisch um, wird um ein paar Grad wärmer, sofort ist Jakobs herbeigelocktes Mitleid zur Stelle, er rückt ein wenig näher und betrachtet mit ausgewechselten Blicken, was er angerichtet hat.
    »Sieht nicht gut aus.«
    Kowalski winkt ab, wird schon wieder heilen, wenn Jakob versöhnlich ist, will auch er nicht kleinlich sein, er ist in Geberlaune. Da liegen die noch kalten Zigaretten, Kowalski hat einfach an alles gedacht, sogar an die Streichhölzer. Er holt sie als letzte Überraschung aus der Tasche, zündet eins an der abgenutzten Reibfläche an, jetzt wird geraucht, Bruder.
    Komm, lehn dich auch zurück und schließ die Augen, verderben wir uns den Genuß nicht mit Gerede, träumen wir uns für ein paar Züge in die alten Zeiten, die bald wieder anfangen werden.

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