Jakob der Luegner
passieren.
»Aber das allerletzte!« sagte Jakob.
Er begibt sich wieder auf die Ausgangsstellung, den nächsten Sender schon im Sinn, schnipst. Lina hat großes Glück, Jakob findet bald die Rundfunkstation, in der Märchen erzählt werden, von einem freundlichen Onkel, der sagt: »Für alle Kinder, die uns zuhören, erzählt der Märchenonkel das Märchen von der kranken Prinzessin.«
Er hat eine ähnliche Stimme wie Sir Winston Churchill, so tief, nur etwas leiser, und freilich ohne fremden Einschlag.
»Kennst du das?« fragt Jakob als Jakob.
»Nein. Aber wieso gibt es im Radio einen Märchenonkel?«
»Was heißt, wieso? Es gibt ihn eben.«
»Aber du hast gesagt, Radio ist für Kinder verboten. Und Märchen sind doch nur für Kinder?«
»Das stimmt. Aber ich habe gemeint, bei uns im Ghetto ist es verboten. Wo kein Ghetto ist, da dürfen Kinder hören. Und Radios gibt es überall. Klar?«
»Klar.«
Der Märchenonkel, ein wenig verstimmt über die Unterbrechung, aber gerecht genug, die Gründe bei sich selbst zu suchen, zieht die Jacke aus, legt sie sich unter, denn der Eimer ist hart und kantig und das Märchen eins von den längeren, wenn man es überhaupt noch zusammenkriegt. Mein Gott, wie lange das her ist, fällt ihm ausgerechnet jetzt ein, für Märchen war der Vater nicht zuständig, die waren Mutters Sache, du hast im Bett gelegen und gewartet und gewartet, daß sie mit der Hausarbeit fertig wurde und zu dir kam, fast immer bist du darüber eingeschlafen. Aber manchmal hat sie sich doch zu dir gesetzt, hat ihre warme Hand unter die Decke geschoben auf deine Brust und hat Geschichten erzählt. Vom Räuber Jaromir mit den drei Augen, der immer auf der kalten Erde schlafen mußte, weil es kein Bett gab, das groß genug für ihn gewesen wäre, vom Kater Raschka, der keine Mäuse fangen wollte, immer nur Vögel, so lange bis er eine Fledermaus gesehen hat, von dem See Schapun, in den die Hexe Dwojre alle Kinder weinen ließ, daß er anschwoll und über die Ufer trat und Dwojre elendiglich darin ersoff, und irgendwann von der kranken Prinzessin.
»Wann fängt es denn endlich an?« fragt Lina.
»Das Märchen von der kranken Prinzessin«, beginnt der Märchenonkel.
Wie der gute alte König, dem ein großes Land gehörte und ein erstklassig schöner Palast und eine Tochter auch noch, die alte Geschichte, wie der ganz furchtbar erschrocken ist.
Weil er sie nämlich ungeheuer lieb gehabt hat, seine Prinzessin, wenn sie hingefallen war und Tränen in den Augen hatte, dann mußte er selber weinen, so lieb hat er sie gehabt.
Und erschrocken ist er, weil sie an einem Morgen nicht aus dem Bett aufstehen wollte und richtig krank ausgesehen hat.
Da wurde der teuerste Arzt weit und breit gerufen, damit er sie schnell wieder gesund und vergnügt machte, aber der Arzt hat sie von oben bis unten abgehorcht und abgeklopft, dann hat er ratlos gesagt: »Es tut mir entsetzlich leid, Herr König, ich kann nichts finden. Ihre Tochter muß an einer Krankheit leiden, der ich in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet bin.« Da war der gute alte König noch mehr erschrocken, er ist selber zu der Prinzessin gegangen und hat sie gefragt, was ihr um Himmels willen fehlt. Und da hat sie ihm gesagt, sie will eine Wolke haben, wenn sie die hat, wird sie sofort wieder gesund. »Aber eine richtige!« hat sie noch gesagt. Das war vielleicht ein Schreck, denn jeder kann sich vorstellen, daß es gar nicht einfach ist, eine richtige Wolke zu beschaffen, sogar für einen König. Den ganzen Tag konnte er vor lauter Kummer nicht regieren, und am Abend hat er Briefe an sämtliche klugen Männer seines Landes schicken lassen, in denen stand geschrieben, sie sollten alles stehen-und liegenlassen und unverzüglich zu ihm in den Königspalast kommen. Am nächsten Morgen schon waren sie alle versammelt, die Doktoren und die Minister, die Sterngucker und die Wetterforscher, und der König hat sich auf seinen Thron gestellt, damit ihn jeder im Saal gut hören konnte, und hat gerufen: »Ru-he!« Ganz still ist es da geworden, und der König hat verkündet: »Demjenigen von euch weisen Männern, der meiner Tochter eine Wolke vom Himmel holt, gebe ich soviel Gold und Silber, wie auf den größten Wagen im ganzen Land passen!« Als das die klugen Männer hörten, haben sie auf der Stelle angefangen zu klären und zu sinnen und zu trachten und zu rechnen. Denn das viele Gold und Silber wollten alle haben, wie werden sie nicht? Ein besonders
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