Jakob der Luegner
dann Brummen und Pfeifen, das klingt beim zweitenmal schon gekonnter, und dann hebt sie kopfüber an, die Musik, mit Pauke und Becken, denen der erste Takt gehört. Pauke und Becken folgt eine einsame Posaune, die etliche Töne braucht, um auf die rechten Gleise zu gelangen.
Die Melodie ist ungewiß, Jakob sagt, eine improvisierte Tonfolge, durchsetzt mit diversen bekannten Themen, aber ohne jede Gesetzmäßigkeit, feststeht nur, es handelt sich um einen Marsch. Zaghaft übernehmen die Füße das Schlagzeug, von den Fingern unterstützt, die sich des Eimers bedienen, so wird der Mund entlastet für das übrige Instrumentarium. Denn eine einzelne Posaune gibt noch keine Blaskapelle her, sie muß abgelöst werden von der Trompete, die wieder von der fistelnden Klarinette, und zwischendurch immer mal wieder ein Tubaton im hintersten Hals. Jakob verliert, wie es heißt, alle Hemmungen, der einzige Zwang, dem er sich unterwirft, er hat trotz der Eile eine gewisse Regel im Ohr, damals vom Vater streng beachtet, und zwar, Vokale sind sparsam zu verwenden, nach Möglichkeit vollständig zu vermeiden. Weil Instrumente sich nur in Mitlauten äußern, genau genommen nur in Tönen, die sich zur Not mit Konsonanten beschreiben lassen, ihnen entfernt ähnlich sind, aber nicht gleich. Also kommt ihm kein simples Täterä über die Lippen und kein Lalila, es gilt, Laute zu formulieren, die sich in keinem Alphabet finden, der Keller dröhnt von Niegehörtem. Mag sein, zuviel Mühe für ein Kind wie Lina, das mit weniger Gefeiltem auch zufrieden wäre, aber ich erinnere, Ehrgeiz ist im Spiel, eine freiwillige Prüfung, und Meisterschaft gedeiht am besten ohne Zwang. Bald hält man die Tonart ohne Schwierigkeiten, Trompete und Posaune werfen sich Phrasen her und hin, üben sich im Wechselspiel und führen es fast allemal zu glücklichem Ende. Die Klarinette rückt notgedrungen mehr und mehr in den Hintergrund, zu unnatürlich hohe Lage, dafür läßt sich die Tuba immer öfter hören, wagt sogar von Zeit zu Zeit ein kleines Kabinettstückchen, eine Tonfolge in unteren Regionen, und flüchtet sich, wenn der Atem knapp wird, in zwei, drei Takte Eimerschlag.
Mit einem Satz, ein Stück Musikgeschichte wird geschrieben, Jakob feiert Triumphe, Lina hält es nicht mehr auf dem Bettgestell. Unhörbar steht sie auf, vergessen alle heiligen Ehrenworte, die Beine schleichen ihr widerspruchslos zu der Trennwand. Sie muß das Ding sehen, das Jakob so ähnlich klingt und doch ganz anders, das mit verschiedenen Stimmen sprechen kann, niesen wie er und solche eigenartigen Geräusche machen. Ein Blick nur, selbst um den Preis eines entdeckten Vertrauensbruches, man kann gegen die Beine, die ihren ausgeprägten Willen haben, nichts ausrichten. Dabei wäre soviel Vorsicht nicht nötig, der Krach, den das Ding macht, übertönt alles, dennoch wird geschlichen.
Bis zum schmalen Durchgang, eben vollendet die Posaune ein gekonntes Solo und gibt an die Trompete ab, Lina schiebt behutsam den Kopf um die Ecke. Unsichtbar für Jakob, der sitzt nicht nur seitlich, der hält auch die Augen fest geschlossen, Zeichen höchster Kraft-und Geistesanspannung, der lärmt weltvergessen nach nur ihm bekannten Regeln. Nein, Jakob merkt nicht, daß er für Augenblicke nackt und bloß sitzt, später wird er durch Linas versteckte Andeutungen hellhörig werden, und viel später erst wird sie ihm ins Gesicht sagen, was sich da in Wirklichkeit zugetragen hat, in jenem Keller. Vorerst reichen ihr ein paar Sekunden Hinschauen und Staunen, Lina ist nach Indien gefahren und hat Amerika entdeckt, dem Aussehen dieses Dinges galt der Ausflug, und jetzt weiß man Bescheid, es sieht aufs Haar so aus wie Jakob. Nachher bleibt nur noch eine einzige Frage, sie wird sich erkundigen, ob er außer diesem Radio noch ein anderes hat, vermutlich hat er keins, wo sollte er es sonst versteckt halten, wenn nicht hier, Lina weiß, was keiner weiß. Sie setzt sich still zurück auf ihren Platz, das Vergnügen am Zuhören ist nicht kleiner geworden, nur vermischt mit ein paar Gedanken, die niemanden etwas angehen.
Dann findet der Marsch zum Ende, aber noch nicht die Vorstellung. Als Jakob ermattet und heilfroh und mit ausgedörrtem Mund zum Vorschein kommt, verlangt Lina stürmisch eine Zugabe, aller guten Dinge sind drei, jetzt erst recht. Das beweist ihm, sie hat keinen Verdacht geschöpft, das sollte es auch beweisen, er denkt, wenn dieser Marsch gut gegangen ist, dann kann ihm nichts mehr
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