Jakob der Luegner
Fajngold auch nicht nach Hause gekommen und am dritten wieder nicht, deswegen ist Mischa am vierten Tag zum einzigen Bekannten Fajngolds gegangen, von dem er wußte, zu Hersch Praschker. Der mit Fajngold zusammen beim Aufräumungskommando arbeitet, die Straßen von Unrat und von Verhungerten säubert, aber Praschker hatte auch keine Ahnung. Er hat gesagt:
»Morgen wollte ich zu ihm in die Wohnung kommen, warum er nicht zur Arbeit erscheint. Sie werden ihn noch holen, aufgeschrieben ist er schon.« – »Wann ist er das letztemal dagewesen?« – »Dienstag.« – »Und Mittwoch früh ist er von zu Hause losgegangen wie immer.«
Nie ist er angekommen, nie ist er heimgekehrt, vielleicht ist er geflohen oder gestorben oder verunglückt oder von der Straße weg verhaftet worden. Gegen Tod oder Unfall spricht, daß er nirgendwo gefunden wurde, man hat sich erkundigt. Gegen eine vorbedachte Flucht spricht, seine Sachen liegen vollzählig im Schrank, nicht einmal die Photographie von seinem Enkel fehlt, von der hätte er sich nicht getrennt, die hat er gehütet wie einen Schatz. Bleibt eigentlich nur Verhaftung von der Straße weg, warum ist schleierhaft, denn Fajngold ist immer ein anstelliger und gesetzesfürchtiger Mensch gewesen, aber man kennt ja den Spruch, wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und aus all dem ergibt sich von selbst, warum Mischa die Schlacht an der Rudna leise erzählt und nicht flüstert.
Den zweiten Abend hintereinander schon liegt Rosa neben ihm, und das ist noch nie vorgekommen. Der alte Frankfurter, als Theatermann an sich kein Freund von allzu strengen Sitten, hat zu bedenken gegeben: »Na schön, Kinder, ihr liebt euch, das kann man begreifen. Aber nun übertreibt mal nicht gleich.«
Deswegen und auch wegen Rosas Zurückhaltung hat sich die Zahl ihrer gemeinsamen Nächte in bescheidenen Grenzen gehalten, Mischa mußte sie zu jeder beinahe so überreden, als wäre es ihre erste, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Und jetzt die zweite schon in gerader Folge, Rosa stellt sich vor, so ungefähr muß es sein, wenn man verheiratet ist, aber, ehrlich gesprochen, wohl fühlt sie sich nicht dabei. Das liegt nicht an Mischa, daß er jetzt plötzlich anders wäre als vorher, hemmungsloser etwa oder unverschämter, der ist im Wert um keinen Punkt gefallen, den sieht sie mit nicht weniger Liebe an als am ersten Tag. Oder sagen wir, am fünften. Das liegt, wie undurchsichtig es manchem klingt, an Isaak Fajngold, man hatte sich auf seltsame Weise an ihn gewöhnt. Aber wie kann man sich an jemand gewöhnen, der doch nur stört, wie taubstumm er auch ist? In solcher Situation, bei der Alleinsein sich von selbst versteht, wie kann man das? Man kann es, und man kann es nicht, wir wollen es ergründen, erstens: In diesem Zimmer hat Rosa zu lieben angefangen, in Fajngolds Gegenwart, er war von der ersten Sekunde an dabei, die Heimlichkeit vor ihm war fester Bestandteil aller Zärtlichkeiten.
Dann zweitens, Fajngolds Bett ist jetzt nicht einfach leer, nein, Fajngold liegt nicht mehr darin, das macht einen erheblichen Unterschied. Jeder Blick hinter die spanische Wand, die überflüssig gewordene und darum abgebaute, erinnert an sein dunkles Schicksal, ungewiß zwar, aber je länger man sich den Kopf zerbricht, ungewiß eigentlich nur, was die Todesart betrifft. Und drittens und endlich, als Mischa ihr gesagt hat, Fajngold ist verschwunden, da hat sie bestürzte Augen gemacht, wie erwartet, aber nach einer Weile waren die Augen gar nicht mehr so bestürzt, sie hat sich dabei ertappt, wie sie gedacht hat: Endlich. Das war nicht gegen Fajngold gerichtet, ihm wünschte sie alles Gute, es hatte nur mit ihr und Mischa zu tun und sollte heißen, endlich allein, endlich ungestört, endlich ein freier Winkel für uns zwei. Dabei hat sie sich ertappt, und es war ihr recht unangenehm, sie fand solchen Gedanken beschämend und mußte doch immer wieder denken: Endlich. Dann hat sie noch gedacht, ganz gut, daß Mischa nicht weiß, was für selbstsüchtiges Zeug mein Kopf ausbrütet. Und sie hat auch gedacht, was immer mit Fajngold geschehen ist, es ist so und so geschehen, für sich behaltene Gedanken können nicht ins Leben eingreifen.
Aber sie haben eingegriffen, so einfach war es nicht, mehrere Tage hat sie Mischa gegenüber Gründe vorgegeben, warum sie nicht in sein Zimmer mitgehen konnte, und er ist enttäuscht abgezogen. Bis gestern, bis sie keine Gründe mehr finden konnte oder wollte, er hat sie gefragt: »Und warum
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