Jakob der Luegner
Jedenfalls ist Rosa durch den Auftritt einer dritten Person zur Besinnung gekommen, so sieht es aus, sie geht zurück in das Zimmer, ohne daß Mischa sie zwingen muß.
Er schließt die Tür, er fürchtet sich vor dem Schweigen.
Deswegen beginnt er sofort, Fajngolds brachliegende Zimmerhälfte von neuem in Besitz zu nehmen, den Schrank an die Wand, genau vor das sauber gebliebene große Viereck auf der Tapete, den Vorhang von der Decke und wieder vor das Fenster. Denn Rosa wird jetzt hier wohnen, wenigstens das ist klar.
»Hast du zuletzt was über die Deportationen gehört?« fragt Mischa.
»Nein«, sagt Jakob.
»Sie haben nicht nur die Franziskaner geräumt. Sie sind auch in der Sagorsker und …«
»Ich weiß«, sagt Jakob.
Sie gehen ein paar Schritte wortlos, den Heimweg vom Bahnhof, Kowalski sind sie schon an der letzten Ecke losgeworden. Er hat sich sehr mit Fragen zurückgehalten in Mischas Gegenwart.
Auf dem Bahnhof fehlen fünf seit jenem Tag, vielleicht sogar mehr, man vermißt nur die fünf, die man selber kennt.
Jakob hatte schon gedacht, es wären sechs, er hatte Mischa zu ihnen gerechnet, weil er an dem Tag nicht zur Arbeit gekommen ist, glücklicherweise war das ein Irrtum.
»Wie geht es mit Rosa?« fragt Jakob.
»Wie soll es gehen?«
»Kommt ihr mit dem Essen zurecht?«
»Glänzend!«
»Sie kann sich doch jetzt keine Marken mehr holen?«
»Wem sagst du das?«
»Könnte nicht jemand aus dem Haus helfen? Bei mir ist es ja ähnlich, mit Lina. Kirschbaum hat immer etwas für sie gegeben.«
»Ich glaube nicht mehr an ein gutes Ende«, sagt Mischa. »Sie gehen jetzt Straße für Straße durch.«
Jakob kommt es vor, als läge ein kaum versteckter Vorwurf in seiner Stimme.
»Kann sein«, sagt Jakob. »Aber überlege selber. Die Deutschen sind in Panik! Die Transporte sind der beste Beweis, daß die Russen schon ganz in der Nähe sein müssen! So gesehen, sind sie sogar ein gutes Zeichen.«
»Ein schönes gutes Zeichen. Erkläre das mal Rosa.«
An einem ihrer todlangweiligen und verweinten Nachmittage geht Rosa aus der Wohnung, obwohl Mischa es ihr streng verboten hat. Am liebsten hätte er sie eingeschlossen, auch wenn sie noch so protestierte, er hat es nur nicht getan, weil die Toilette auf dem Hof liegt.
Sie weiß kein bestimmtes Ziel, nur die Beine will sie sich vertreten nach einer reichlichen Woche Gefängnis. Die Gefahren, von denen Mischa immerzu redet, hält sie für übertrieben, in seinem Zimmer ist sie nicht sicherer als irgendwo, das Haus kann jeden Tag auch an die Reihe kommen.
Und wer sollte sie erkennen, Bekannte gibt es kaum noch, die Straßenkontrollen beginnen erst am Abend, in der Gegend der Sperrstunde. Außerdem, das alles ist ihr im Grunde ziemlich gleichgültig, und außerdem, Mischa braucht von dem Spaziergang nichts zu erfahren, sie will nicht lange fortbleiben.
Es muß nicht unbedingt die Wahrheit sein, wenn sie ihm später, als er doch lange vor ihr zu Hause ist, erzählt, daß sie zufällig den Schlüssel zu ihrer Wohnung bei sich gehabt hätte.
Und daß sie, ohne es eigentlich zu wollen, plötzlich in der Franziskaner stand, die Füße haben aus alter Gewohnheit diesen Weg genommen, sagt sie.
Die Straße kommt ihr unwirklich leer vor, sie wird auch für den Durchgangsverkehr gemieden, als ob in ihr die Pest gewütet hätte. Rosa blickt in verlassene Parterrezimmer, in Zimmer von Leuten, die sie noch vor wenigen Tagen gegrüßt hat, hinter einem Fenster entdeckt sie einen Jungen.
Er ist ungefähr vierzehn Jahre alt, er kniet vor einem offenen Schrank und stopft in großer Hast alles, was er greifen kann, in einen Rucksack, Geschirr, Bettwäsche, eine Hose, einen Holzkasten, ohne seinen Inhalt erst auf Brauchbarkeit zu prüfen. Rosa sieht ihm starr zu, dem einzigen Lebewesen außer ihr. Der Schrank scheint vollkommen leer, aber der Rucksack ist noch nicht voll, der Junge richtet sich auf und blickt sich suchend im Zimmer um. Dabei sieht er die großen Augen hinter der Scheibe, im ersten Moment erschrickt er, dann sieht er auch den Stern auf Rosas Brust, und über sein Gesicht zieht sich ein einladendes Grinsen. Wahrscheinlich vermutet er harmlose Konkurrenz.
Rosa geht eilig weiter, sie fragt sich, ob in ihrer Wohnung inzwischen auch schon so einer gewesen ist, sie weiß kein anderes Wort, ein Plünderer. Dabei empfindet sie keine Wut, doch Verständnis allein genügt nicht, ihr ist es unangenehm, daß hinter den Wänden ein zweites heimliches Leben
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