Jakob der Luegner
existiert, ein auf den ersten Blick nicht erkennbares, und langsam alle Spuren verwischt.
Leise öffnet sie ihre Haustür und lauscht mit klopfendem Herzen. Gerne hätte sie Mischa bei sich, vielleicht wäre er zu überreden gewesen, nun ist sie einmal ohne ihn hier. Sicher kann man nie sein, aber nach einer guten Weile Stille nimmt sie doch an, daß außer ihr niemand im Haus ist. Sie geht schnell die zwei Treppen hoch, bevor sie die Tür aufschließt, sieht sie durch das Schlüsselloch. Dann steht sie im Zimmer, das sieht sehr aufgeräumt aus. Der Staub hatte noch nicht viel Zeit, sich zu setzen, die vier Stühle stehen ordentlich um den Tisch, auf dem eine gelbe Decke liegt, an jeder Längsseite ein Zipfel. Der Wasserhahn tropft. Bis jetzt war keiner mit Rucksack hier, das sieht Rosa auf den ersten Blick, und auch, daß ihre Eltern ohne Eile aufgebrochen sein müssen.
Als erstes sucht sie nach irgendeiner Nachricht, die Idee kommt ihr jetzt erst, sie erinnert sich, daß ihre Mutter keine Sekunde fortgegangen ist, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Aber diesmal hat sie mit der alten Gewohnheit gebrochen, offenbar, denn es findet sich kein beschriebenes Blatt Papier, auf dem ohnehin nur stehen könnte: »Ich weiß nicht wohin, ich weiß nicht wie lange.«
Dann sucht Rosa noch einmal, jetzt keine Nachricht mehr, einfach so. Mischa erzählt mir, sie ist eben ein sentimentales Ding, sie wollte sich einen Überblick verschaffen, was ihre Eltern mitgenommen haben. Wahrscheinlich weint sie ganze Bäche voll dabei, die braun und weiß karierte lederne Einkaufstasche fehlt und der schwarze Pappmachékoffer, an Behältnissen nichts weiter. Da Rosa alles Inventar genau kennt, wäre sie am Ende ihrer Suche in der Lage, eine Liste des Mitgenommenen aufzustellen. Auch das Album mit Bildern und Rezensionen, das Buch vom wahren Leben Felix Frankfurters.
Ihre eigenen Sachen liegen unberührt, unter vielem die Lebensmittelkarte, ein Teil ist schon verfallen. Rosa steckt sie ein, sonst gibt es keine Gegenstände, an denen sie besonders hängt. Sie zwingt sich zu praktischen Überlegungen, da ist noch eine Aktentasche, in die tut sie ihr zweites Kleid. Wäsche und Strümpfe, ihren Mantel zuletzt. Dabei wundert sie sich, daß sie es fertigbringt, bis zum nächsten Winter zu denken. Mit dem Mantel geht die Tasche nicht mehr zu.
Rosa will ihn anziehen, aber sie müßte dann die Sterne vom Kleid abtrennen und an den Mantel nähen. Also stopft sie ihn doch in die Tasche und bindet sie mit dem Gürtel des Mantels zu. Wenn sie dem Jungen auf der Straße begegnen sollte, wird er sie um ihre reiche Beute beneiden.
Rosa dreht den Wasserhahn fester zu, sie ist fertig hier. Als sie geht, läßt sie den Schlüssel in der Tür stecken, für den Jungen oder für einen anderen, als eine Art Schlußstrich.
»Du darfst zehnmal raten«, sagt mir Mischa, »du wirst nicht darauf kommen, wohin sie jetzt gegangen ist.«
Rosa besucht Jakob, den sie nicht kennt, nur aus Mischas Berichten, aus denen aber ganz gut. Seit Bezanika war kein gemeinsamer Abend, an dem nicht von ihm die Rede gewesen wäre, von seinem Radio, von seinem Mut, von den Fortschritten der Russen an der Front. Rosa hat damals, als die erste große Freude über die Neuigkeit vorüber war, gefragt, warum dieser Jakob jetzt erst anfängt, Nachrichten zu verbreiten, man lebt doch schon drei Jahre im Ghetto, und wenn er ein Radio versteckt hält, dann hat er es von Anfang an.
»Wahrscheinlich sind die Deutschen bis jetzt die ganze Zeit marschiert. Sollte er vielleicht erzählen, daß es von Tag zu Tag schlechter wird?« hat Mischa ihr geantwortet, und das klang überzeugend.
Sie steht also vor seiner Tür, nicht aus Rachsucht oder aus persönlichem Groll, versucht sie sich einzureden. Sicher ist er nett und freundlich und will das Beste, aber die täglich froher klingenden Verheißungen, und dann das leere Zimmer in der Franziskaner, das ganze Viertel sogar, sie wird ihn fragen, wie sich eins mit dem anderen verträgt. Sie wird zu bedenken geben, ob es erlaubt ist, in ihrer Lage solche Hoffnungen zu wecken, kommen Sie mir doch nicht mit dem Radio, das kann erzählen, was es will, man braucht sich doch bloß umzusehen.
Rosa klopft mehrmals vergeblich, warum hat sie nicht vorher bedacht, daß Jakob ungefähr zur selben Zeit nach Hause kommen muß wie Mischa. Das Warten macht sie unsicher, wenn sie ihm dann gegenübersteht, wird ihr Kopf wie ausgehöhlt sein. Noch könnte sie
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