Jakob der Luegner
fortgehen, vielleicht vor Mischa in der Wohnung sein und Ärger vermeiden, den es im anderen Falle todsicher geben wird. Je länger sie wartet, um so deutlicher muß sie sich eingestehen, daß sie mit höchst nebelhaften Absichten gekommen ist. Jakob wird sich immer nur auf sein Radio berufen, gleich, was sie ihm vorwirft, sie hatte gehofft, daß sie alle die Zeit unbeschadet überdauern würden, nun ist es anders gekommen, das ist bei Lichte besehen ihr ganzer Grund. »Sie spielt schneller als sie denkt«, hat ihr Vater einmal nach einer Damepartie gesagt, ihr Vater. Rosa kommt der Gedanke, daß Jakob vielleicht andere Nachrichten verbreitet, als er in seinem Radio hört.
Da steht Lina am Ende des Ganges, frisch von der Straße und von Rafael gekommen, sie sieht eine junge Frau mit prall gefüllter Aktentasche vor der gewissen Tür und tritt neugierig näher. Sie mustern sich ein bißchen, beide hegen noch keinen Verdacht. Lina fragt: »Willst du zu Onkel Jakob?«
»Ja.«
»Er muß bald kommen. Möchtest du nicht lieber drin warten?«
»Wohnst du denn hier?« fragt Rosa.
Statt einer Antwort holt Lina den Schlüssel hinter dem Türrahmen hervor, schließt auf, einladende Handbewegung mit ein wenig Stolz. Rosa betritt zögernd das Zimmer, sofort wird ihr ein Stuhl zurechtgeschoben, sie ist einer aufmerksamen Gastgeberin in die Hände gefallen. Lina setzt sich auch, man betrachtet sich weiter, wohlwollend.
»Du bist die Lina, stimmt’s?« sagt Rosa.
»Woher weißt du meinen Namen?«
»Von Mischa«, sagt Rosa. »Ihr kennt euch doch gut?«
»Klar. Und jetzt weiß ich auch, wer du bist.«
»Da bin ich gespannt.«
»Du bist Rosa. Na?«
Sie erzählen sich, was sie schon voneinander wissen, Lina ist Mischa im übrigen noch böse, weil er sie die ganze Zeit, als sie krank im Bett lag, nicht ein einziges Mal besucht hat, immer nur schöne Grüße über Jakob. Rosa sieht sich unauffällig um, allerdings erwartet sie nicht, daß der Apparat frei im Zimmer steht, jedem zufälligen Gast zur Freude.
»Was willst du denn von Onkel Jakob?« fragt Lina, als der übrige Gesprächsstoff sich bald erschöpft hat.
»Wir warten lieber, bis er kommt.«
»Sollst du etwas von Mischa ausrichten?«
»Nein.«
»Du kannst es mir ruhig sagen. Er hat vor mir keine Geheimnisse.«
Aber Rosa hat trotzdem nicht die Absicht, sie lächelt und schweigt, da versucht es Lina auf Umwegen.
»Warst du schon mal bei uns?« fragt sie.
»Noch nie.«
»Zu uns kommen nämlich in letzter Zeit allerhand Leute.
Und weißt du, was sie wollen?« Lina macht eine Pause, die Rosa dazu nutzen soll, den besonderen Vertrauensbeweis zu erkennen, bevor sie verrät: »Sie wollen Nachrichten hören.
Kommst du auch deswegen?«
Rosas Gesicht verliert das Lächeln, deswegen ist sie bestimmt nicht hier, wohl eher im Gegenteil. Sie bereut inzwischen, überhaupt gekommen zu sein, vom ersten Augenblick an ständig mehr, sie fühlt sich mit ihrer Verzweiflung am falschen Ort, hier geht es redlich und nach bestem Glauben zu. Sie stellt sich die Frage, was sie tun würde, wenn Jakob jetzt hereinkäme und ihr erzählte, daß der Transport mit ihren Eltern auf seinem Weg nach da und da den Erlösern begegnet sei. Und sie wagt keine Antwort, auch nicht auf die zweite Frage, ob sie sich über den wahren Grund ihres Kommens bis jetzt selbst belogen hat, für ausgeschlossen hält sie es nicht.
»Was ist?« fragt Lina. »Kommst du auch deswegen?«
»Nein«, sagt Rosa.
»Aber gehört hast du auch davon?«
»Wovon?«
»Daß alles bald anders wird?«
»Ja«, sagt Rosa.
»Warum freust du dich dann nicht?«
Rosa setzt sich aufrechter, erreicht ist die Schwelle, an der man entweder umkehrt oder die Wahrheit sagt, aber was ist die Wahrheit, außer ihren Bedenken. Sie sagt: »Weil ich nicht daran glaube.«
»Du glaubst nicht, was Onkel Jakob erzählt?« fragt Lina, in einem Ton, als hätte sie nicht ganz richtig gehört.
»Nein.«
»Du meinst, er schwindelt?«
Rosa gefällt das Wort, in diesem Zusammenhang muß man erst darauf kommen, sie hätte Lust, sich mit dem netten Mädchen über nette Dinge zu unterhalten. Auf keinen Fall mehr in der eingeschlagenen Richtung fortzufahren, wie konnte sie das tun, mit einem Kind. Ohne Angabe von beweiskräftigen Gründen ist sie plötzlich überzeugt, daß sie einen Fehler begangen hat, der hoffentlich ohne Folgen bleibt. Sie kann nicht einfach mir nichts, dir nichts aufstehen und gehen, Rosa sitzt verloren und wartet, nun
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