Jakob der Luegner
nicht mehr auf Jakob, nun auf eine unverfängliche Gelegenheit, den als falsch erkannten Besuch zu beenden. Aber die rückt in immer weitere Ferne, Lina ereifert sich nach der Schrecksekunde so sehr, daß einem Angst werden kann. Denn ihr Onkel ist alles andere, nur kein Lügner, das hätte Rosa nicht gesagt, doch, genau das hat sie gesagt, wie kann man nur solche Dinge behaupten? Wo sie doch selbst auf seinem Radio gehört hat, daß die Russen bald hier sein werden, mit ihren eigenen Ohren, was sagst du jetzt? Ein Mann mit einer ganz tiefen Stimme hat es einem anderen Mann erzählt, seinen Namen weiß sie nicht mehr, aber an die Stimme erinnert sie sich genau, wortwörtlich hat er gesagt, daß der Schlamassel bald zu Ende sein wird, höchstens noch ein paar Wochen. Ob der vielleicht auch geschwindelt hätte, wie Rosa überhaupt darauf käme, ihrem Onkel die Unwahrheit zu unterstellen, sie soll nur auf ihn warten, der wird ihr schon die richtige Antwort geben.
Bevor noch alles ausgesprochen ist, empört und in fliegenden Sätzen unterbricht sich Lina und starrt an Rosa vorbei, erschrocken, Rosa wendet den Kopf zur Tür. Da steht Jakob, mit steinernem Gesicht, wie es heißt, man hat keinen Luftzug gespürt.
Rosa erhebt sich, wieviel er gehört haben mag oder wie wenig, sie kommt sich durchschaut vor, seine Augen blicken so bestürzt. Sie geht mit gesenktem Kopf zur Tür, keine Gelegenheit für einen gefälligen Abgang wird sich mehr finden, sie hat etwas angerichtet. Jakob tritt für sie einen halben Schritt zur Seite, aber noch einmal den Weg zurück zum Stuhl, denn die Aktentasche liegt vergessen auf der Erde.
Den ganzen langen Korridor wagt Rosa nicht, sich umzudrehen. An der Treppe tut sie es doch, Jakob steht noch unbeweglich und schaut ihr nach, gleich wird ihm die Kleine erzählen, was er sicher schon weiß.
Bleiben wir bei Rosa, sie kommt auf die Straße, in der beginnenden Dämmerung, dort wartet die nächste Unannehmlichkeit. Auf den ersten Blick wilde Aufregung, die Juden flüchten in die Hausflure, wieder einmal, zuerst erkennt Rosa nicht wovor. Dann sieht sie ein Auto sich nähern, einen dunkelgrünen kleinen Lastwagen, auf dem Trittbrett steht ein Uniformierter. Rosa rennt die wenigen Meter zurück in Jakobs Haus, von der Panik angesteckt und ohne zu überlegen, sie lehnt sich an die Wand und hält die Augen geschlossen. Sie öffnet sie, als sie eilige Schritte vernimmt, ein alter Mann stellt sich keuchend neben sie, auch von der Straße.
»Was wollen die, Mädchen?« fragt er.
Rosa zuckt mit den Schultern, gleich wird der Wagen vorüberfahren und vergessen werden, die Szene mit Mischa wartet schon. Der Mann vermutet, daß es sich um eine Angelegenheit von allerhöchster Stelle handelt, sonst würden sie zu Fuß kommen, wie man es alle paar Tage hört. Zu beider Entsetzen kreischen Bremsen, der ängstliche Alte umklammert Rosas Arm, daß es ihr weh tut.
Zwei in Uniform kommen ausgerechnet in ihren Hausflur, Lederriemen unter dem Kinn, der Alte läßt und läßt Rosas Arm nicht los. Draußen läuft noch der Motor, die Deutschen wähnen sich zuerst alleine in dem Halbdunkel, als sie schon fast an der Treppe sind, sagt einer von ihnen: »Sieh mal!«
Sie wenden sich den beiden Gestalten an der Wand zu, Rosa scheint sie mehr zu interessieren als der Mann, aber vielleicht bildet sie sich das nur ein. Sie kommen einige Schritte näher, da winkt der eine ab und sagt: »Nee, nee.«
Der andere sagt: »Macht euch weg hier.«
Dann gehen sie die Treppe hinauf, ihre lauten Stiefel schrecken das ganze Haus auf. Man hört eine Tür schlagen, erregte Stimmen von überallher und durcheinander, wo Ruhe viel angebrachter wäre, ein Kind weint.
»Komm!« flüstert der Alte. Rosa läuft hinter ihm her, in der Tür verhält er zögernd, weil er sich vor dem Wagen fürchtet, aber an dem müssen sie vorbei, wenn sie die Aufforderung des Deutschen befolgen wollen.
»Na los, gehen Sie schon«, sagt Rosa.
Sie hasten gerade über den Damm, auf das gegenüberliegende Haus zu, von drinnen wird schon die Tür für sie geöffnet. Der Alte setzt sich erschöpft auf die unterste Treppenstufe, er stöhnt, als wäre er um den ganzen Häuserblock gelaufen und reibt sich die Herzgegend. Rosa sieht außer ihm noch drei Männer und eine Frau im Flur, in dem es noch dunkler ist als im anderen, sie kennt niemanden. Sie schaut zur Tür, die ist aus Blech, ein vierter Mann steht am Schlüsselloch, ein ziemlich junger, und berichtet
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