Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles
dass der Weg nicht dazu da sei, um sich den Kopf zu zerbrechen, sondern dass er erlebt werden müsse.
Enttäuscht war ich von Alice schon ein wenig, als sie davon zu sprechen begann, wie sie in kurzer Zeit viel Geld verdient habe, und mich diesbezüglich zu ködern versuchte. Womit sie dieses Geld verdiene, teilte sie mir nicht mit.
In Sarrià rannte ich sogleich umher, um einen „Telebank“-Geldautomaten zu finden. Nach längerem hin und her in dieser städteplanerisch als Flickwerk zu bezeichnenden, hässlichen Stadt wurde ich endlich fündig. Wieder kapitalkräftig konnte ich dem Paella-Angebot eines Restaurants unweit des Geldautomaten nicht widerstehen.
Schon lange mutmaßte ich, dass entgegen den Beschönigungen meiner Reiseführer doch nicht alle Jakobspilger seit alters her lieb und artig gewesen sein konnten und Almosen und Gastfreundschaft als Akt einer Gnade sondern vielmehr als ein ihnen zustehendes, göttliches Recht angesehen haben dürften, welches bei unzureichender Versorgungslage, womöglich als göttlicher Auftrag interpretiert, notfalls mit Gewalt selbst durchzusetzen galt. Denn sie wollten sicherlich nur, dass auch die Wohlhabenden die himmlische Sphärenmusik vernehmen sollten. Meinen Verdacht fand ich in einem alten Gefängnis Sarriàs für aufsässige Pilger bestätigt, welches leider wegen Baufälligkeit nicht besichtigt werden konnte.
Nach einem stillen Gebet in der Kirche des Magdalena-Klosters spazierte ich zur 4,5 km entfernten Herberge in Barbadelo. Geduscht und frisch eingekleidet las ich in meinem oberen Doppelstockbett Legenden des Jakobsweges. Trotz den frühabendlichen Stunden konnte ich meine Absicht, meine schmutzigen Kleider zu waschen, nicht verwirklichen, da ich kein Behältnis zum Einweichen in der Waschlauge auffinden konnte. So funktionierte ich wie so oft eine Plastiktüte in einen Dreckigwäschesack um und packte diesen wieder ein. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!
Samstag, den 19.06.:
Der tiefe Flug der Schwalben und die dunkle, geschlossene Wolkendecke verhießen heute früh einen verregneten Tag. Als ich den Frühstückstisch in einer Bar am Wege verließ, nieselte es leicht. Den entlang ziehenden Pilgertross musste ich wegen meinem nicht länger aufschiebbaren Morgenschiss kurz verlassen. Ich schlug mich ins Gebüsch. Hinter einer vom Jakobsweg aus uneinsehbar hohen Hecke fand ich bereits einen Kotfladen vor, der unverkennbar von einem Homo sapiens stammte. In gebührendem Abstand platzierte ich meinen.
Wieder uneingeschränkt marschfähig latschte ich auf meist mit Buschwerk oder niedrigen Natursteinmauern begrenzten Erdwegen durch die hügelige Weidelandschaft. Mein Hut schützte mich fabelhaft vor dem Regen. Um die Mittagszeit kehrte ich in einer kleinen Bar auf dem Wege ein, um ein Bierchen zu zupfen. Der letzte Entfernungsstein wies noch 100 km bis Santiago aus. Alice hatte anscheinend denselben Einfall, so dass ich mein Bier in ihrer Gesellschaft trinken durfte. Sie pflegte nicht in Herbergen zu übernachten und war immer bestrebt, möglichst frühzeitig die von ihr telefonisch einen Tag zuvor gebuchten Hostals zu erreichen. So machte sie sich auch heute vor mir auf. Es hatte zu regnen aufgehört. Meine Füße waren federleicht und flogen geradezu über die kleinbäuerlich geprägte Hügellandschaft hinweg.
Wie schon so oft gesehen bestattet man anscheinend die Toten nicht in der Erde sondern übererdig in zugemauerten Nischen von drei- bis vierstöckigen Bauwerken. Vielleicht ist dieses durch die dünne Erdkruste bedingt.
Nach meinem Reiseführer sollte man den kleinen Umweg unbedingt in Kauf nehmen und zum Retortenort Portomarín am Gestade des Flusses Rio Nino hinaufsteigen, durch dessen Anstauung in den sechziger Jahren die alte Ortschaft für immer in den Fluten versank. Im Zuge der Verlegung hatte man die romanische Wehrkirche San Nicolás Stein für Stein abgetragen und in der neu errichteten, mit Ausnahme seiner Arkadengänge architektonisch einfallslosen Ersatzortschaft originalgetreu wieder aufgebaut. Den Kirchvorplatz schmückte eine nette Jakobspilgerstatue, die mir den Weg nach Santiago de Compostela zu weisen schien.
Um 20.30 Uhr nahm ich an einer Messe in der schmucklosen San Nicolás Kirche teil. Bei meiner Quartiersuche war mir eine kleine, zierliche Japanerin behilflich, die ich auf dem Camino schon einige Male sah. Ihr Erscheinungsbild, ihre hohe, wispelnde Stimme und ihr für Japaner übliches, äußerst niedrig seelisches
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