Jamaica Lane - Heimliche Liebe
loszuprusten.
Nate runzelte die Stirn. »Das waren männliche Tränen. Männliche Tränen des Bedauerns.«
»Ich nehme mal an, ein neuer Hund stand nicht zur Debatte?«, zog ich ihn auf.
Sylvie schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir hatten Angst, wogegen er den eintauschen würde.«
Nate schlug sich mit den Händen auf die Schenkel und stand auf. »So, wenn ihr damit fertig seid, mich zu quälen, würde ich Liv jetzt gerne die Zelle zeigen, in der ich achtzehn Jahre lang hausen musste.« Er nahm mich bei der Hand und zog mich von meinem Stuhl hoch. Ich tauschte ein verschwörerisches Grinsen mit seinen Eltern, ehe ich mich von ihm ins Haus ziehen ließ.
Mit »Zelle« meinte er sein Zimmer. Und es war keine Zelle, sondern ein Jugendzimmer, wie es typischer nicht hätte sein können: An den Wänden hingen Poster von Indie-Bands, hier und da lagen noch Bücher und Comichefte herum. Mein Blick wanderte über die blauen Wände, die dunkelblaue Tagesdecke auf dem Bett und dann weiter zu den zahlreichen Fotos. Offenbar hatte Nate schon früher gerne fotografiert. Es gab einige wunderschöne Landschaftsaufnahmen von Longniddry und dem Strand, auf den meisten Fotos allerdings waren seine Eltern und Freunde zu sehen. Lächelnd betrachtete ich jüngere Ausgaben von Nate, Cam und Peetie, wie sie am Strand Faxen machten.
Dann tauchte auf immer mehr Bildern ein Mädchen auf, und mein Herzschlag beschleunigte sich. Nate lehnte die ganze Zeit schweigend am Türrahmen und ließ mich schauen. Schließlich entdeckte ich das einzige Foto, das er gerahmt hatte. Es stand auf seinem Nachttisch. Als ich mich aufs Bett setzte und es in die Hand nahm, spürte ich einen schmerzhaften Stich in der Brust.
Es war dasselbe Mädchen.
Sie saß auf einer niedrigen Steinmauer und blinzelte lächelnd in die Kamera. Ihre langen rotblonden Haare wehten im Wind. Sie war klein, blass und schlank mit zarten Gesichtszügen und einem bezaubernden Lächeln. Sie trug ein weißes Sommerkleid und sah aus wie ein Engel – genau wie Nate sie beschrieben hatte.
Irgendwann fand ich meine Stimme wieder. »Alana?«
Als Nate keine Antwort gab, hob ich den Blick. Er nickte und machte einen Schritt ins Zimmer hinein. »Alana.«
Ich stellte das Foto zurück an seinen Platz und sagte leise: »Sie war wunderschön, Nate.« Ich meinte es absolut aufrichtig.
»Ein paar Wochen nachdem ich das Foto gemacht habe, erfuhren wir, dass sie ein Lymphom hat.«
Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, fragte ich: »Lebt ihre Familie noch hier?«
Er nickte und kam auf mich zu. Er ließ sich neben mir auf dem Bett nieder und starrte die Wand an, an der die vielen Fotos von Alana hingen. Mein Blick fiel auf eins der Bilder, das offenbar von einer dritten Person aufgenommen worden war. Nate, schlaksiger und jünger, aber schon genauso attraktiv wie heute, stand hinter Alana und hatte ihr die Arme um die Taille geschlungen. Sie lehnte sich an ihn, die Hände auf seinen Armen, wie um ihn festzuhalten. Beide lächelten. Sie sahen so glücklich aus. So unschuldig.
Sie ahnten nicht, was ihnen bevorstand.
Ich rang mit den Tränen und schlug rasch die Augen nieder. Der brennende Schmerz in meiner Brust wollte nicht weggehen.
»Ja, ihre Eltern leben noch hier. Ich habe aber keinen Kontakt mehr zu ihnen.«
»Warum nicht?«
Nate zuckte unwillig mit den Schultern, bevor er die Augen zusammenkniff. »Den Großteil unserer Kindheit habe ich damit verbracht, Alana einen sicheren Unterschlupf zu bieten, außerhalb der Reichweite ihres Stiefvaters.«
»Hat er sie geschlagen?«
»Nein, dann hätten wir ja was gegen ihn unternehmen können. Es waren psychische und verbale Misshandlungen. Andauernd. Mit ihrer Mutter ist er genauso umgesprungen, die hat es einfach mit sich machen lassen. Als die Krebsdiagnose kam, hat er aufgehört, aber da war der Schaden schon angerichtet. Alana war still und unsicher, sie hatte Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. Ich musste immer ihre Kämpfe für sie ausfechten. Das war seine Schuld. Ich würde ja sagen, Alana war ein ängstlicher Mensch, aber als sie im Sterben lag, war sie so tapfer … Als es wirklich darauf ankam, hat sie unglaublichen Mut bewiesen. Nach ihrem Tod habe ich den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen.«
Ich rieb ihm tröstend die Schulter. »Alana konnte froh sein, jemanden wie dich zu haben.«
Er lächelte milde, war aber mit seinen Gedanken ganz woanders. »Wir hatten diesen Platz am Strand, nahe beim Golfclub, wo wir uns
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