James Bond 05 - Liebesgrüße aus Moskau (German Edition)
Orientexpress war in der hässlichen, schlecht konstruierten Höhle, die Istanbuls Hauptbahnhof darstellte, der einzige Zug mit Lok. Die Züge auf den anderen Schienen waren antriebslos und unbesetzt – sie warteten auf den nächsten Tag. Nur Gleis drei und sein Bahnsteig summten vor Aktivität und der tragischen Poesie der Abreise.
Die Bronzeschrift auf der Seite des dunkelblauen Zugs besagte: COMPAGNIE INTERNATIONALE DES WAGON-LITS ET DES GRANDS EXPRESS EUROPÉENS. Über der Schrift befand sich ein Metallschild, auf dem in schwarzen Buchstaben auf weißem Hintergrund ORIENTEXPRESS stand. Und darunter, in drei Zeilen:
ISTANBUL — THESSALONIKI —
BEOGRAD — VENEZIA — MAILAND —
LAUSANNE — PARIS
James Bond warf einen flüchtigen Blick auf eines der romantischsten Schilder der Welt. Zum zehnten Mal sah er auf seine Uhr. Acht Uhr einundfünfzig. Sein Blick wanderte wieder zum Schild. Alle Städtenamen waren in der Landessprache verfasst, bis auf MAILAND. Warum nicht MILANO? Bond zog ein Tuch aus der Tasche und wischte sich über die Stirn. Wo zur Hölle blieb sie? War sie erwischt worden? Hatte sie es sich anders überlegt? War er letzte Nacht oder eher heute Morgen in diesem großen Bett zu grob gewesen?
Acht Uhr fünfundfünfzig. Das leise Schnaufen der Lok hatte aufgehört. Das automatische Überdruckventil ließ zischend den überschüssigen Dampf ab. Hundert Meter entfernt beobachtete Bond, wie der Bahnhofsvorsteher dem Lokführer und dem Heizer ein Signal gab und langsam den Zug entlangzulaufen begann. Dabei klopfte er an die Türen der Waggons der dritten Klasse vorne am Zug. Passagiere, hauptsächlich Bauern, die nach einem Wochenende bei ihren Verwandten wieder nach Griechenland zurückkehrten, hingen aus den Fenstern und plauderten mit der grinsenden Menge unter ihnen.
Dahinter, dort wo die Bogenlampen aufhörten und sich durch die halbmondförmige Öffnung die dunkle, sternenübersäte Nacht zeigte, sah Bond, wie ein rotes Signallicht auf Grün sprang.
Der Bahnhofsvorsteher kam näher. Der in eine braune Uniform gekleidete Schlafwagenschaffner tippte Bond an den Arm. »
En voiture, s’il vous plaît
.« Zwei reich aussehenden Türken küssten ihre Geliebten – die Damen waren zu hübsch, um Ehefrauen zu sein – und stiegen, begleitet von einer Salve lachend vorgetragener Ermahnungen, auf das kleine Metallpodest und die zwei hohen Stufen hinauf in den Waggon. Auf dem Bahnsteig befanden sich keine weiteren Fahrgäste für diesen Wagen. Der Schaffner blickte den großen Engländer ungeduldig an, nahm das Metallpodest und stieg mit ihm in den Zug.
Der Bahnhofsvorsteher kam zielstrebig an ihm vorbei. Noch zwei weitere Waggons, die der ersten und zweiten Klasse, und dann, als er den Dienstwagen erreicht hatte, hob er eine schmutzige grüne Flagge.
Niemand kam noch vom
guichet
über den Bahnsteig gelaufen. Hoch über dem Fahrkartenschalter sprang der Minutenzeiger der großen beleuchteten Uhr auf die Zwölf. Es war Punkt neun.
Über Bonds Kopf wurde ein Fenster geöffnet. Bond sah auf. Sein erster Gedanke war, dass der schwarze Schleier zu weitmaschig war. Der Versuch, den üppigen Mund und die aufgeregten blauen Augen zu verbergen, war amateurhaft.
»Schnell.«
Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Bond griff nach dem vorbeikommenden Handgriff und schwang sich auf die Stufe. Der Schaffner hielt immer noch die Tür auf. Gemächlich trat Bond hindurch.
»Madam traf spät ein«, sagte der Schaffner. »Sie kam über den Gang. Sie muss im letzten Waggon eingestiegen sein.«
Bond ging über den mit Teppichboden ausgelegten Gang zum mittleren Abteil. Auf einem weißen Schild stand eine schwarze Sieben über einer schwarzen Acht. Die Tür stand offen. Bond ging hinein und schloss sie hinter sich. Tatjana hatte ihren Schleier und den schwarzen Strohhut abgenommen. Sie saß in einer Ecke am Fenster. Unter dem offenen Zobelpelzmantel trug sie ein terrakottafarbenes Kleid aus Shantungseide mit Plisseerock, honigfarbene Nylonstrümpfe, einen schwarzen Krokodilledergürtel und Schuhe aus dem gleichen Material. Sie wirkte gefasst.
»Du hast kein Vertrauen, James.«
Bond setzte sich neben sie. »Tanja, wenn hier nur ein bisschen mehr Platz wäre, würde ich dich übers Knie legen und dir den Hintern versohlen. Deinetwegen hätte ich fast einen Herzinfarkt bekommen. Was ist passiert?«
»Nichts«, sagte Tatjana unschuldig. »Was soll schon passiert sein? Ich sagte, dass ich da sein würde, und hier bin
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