James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
»habe ich erst vor einem Monat gefunden. Bei meinem letzten Besuch. Aber ich habe schon jede Menge andere gute gefunden. Kurz vor Weihnachten wollte ich den Fluss erforschen. Ich folgte ihm bis zum See, an dem die Vogelmänner ihr Lager hatten. Es war völlig zerstört. Es war schon spät, und ich beschloss, dort zu schlafen. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Der Drache war nur ein paar Meter von mir entfernt. Er hatte zwei große funkelnde Augen und eine lange Schnauze. Dann hatte er noch so etwas wie kurze Flügel und einen spitzen Schwanz. Und er war ganz schwarz und golden.« Sie runzelte die Stirn, als sie den Ausdruck auf Bonds Gesicht bemerkte. »Es war Vollmond. Ich konnte ihn ziemlich genau sehen. Er kam direkt an mir vorbei und brüllte. Er rannte über den Sumpf, und als er an ein paar dichte Mangrovenbüsche kam, stieg er einfach darüber und stürmte weiter. Ein Schwarm Vögel stieg vor ihm auf, und plötzlich kam Feuer aus seinem Maul und verbrannte viele von ihnen, genau wie die Bäume, in denen sie geschlafen hatten. Es war schrecklich. Das Schrecklichste, was ich jemals gesehen habe.«
Die junge Frau lehnte sich zur Seite und betrachtete Bonds Gesicht. Dann setzte sie sich wieder auf und blickte stur aufs Meer hinaus. »Ich kann sehen, dass du mir nicht glaubst.« Sie war wütend und angespannt. »Du bist einer dieser Stadtmenschen. Du glaubst an gar nichts. Pfui!« Sie schauderte vor Abneigung gegen ihn.
»Honey, so etwas wie Drachen gibt es nicht«, erwiderte Bond sachlich. »Du hast etwas gesehen, das wie ein Drache aussah. Ich frage mich nur, was es war.«
»Woher weißt du, dass es keine Drachen gibt?« Jetzt hatte er sie richtig wütend gemacht. »Dieser Teil der Insel ist unbewohnt. Hier hätte ganz leicht einer überleben können. Was weißt du überhaupt über die Natur und solche Dinge? Ich lebe mit Schlangen und anderen Tieren zusammen, seit ich ein Kind war. Allein. Hast du schon mal gesehen, wie eine Gottesanbeterin ihren Mann verspeist, nachdem sie sich geliebt haben? Hast du schon mal Mungos tanzen sehen? Oder einen Oktopus? Wie lang ist die Zunge eines Kolibris? Hast du schon mal eine Schlange als Haustier gehabt, die eine Glocke um ihren Hals trug und damit geklingelt hat, um dich zu wecken? Hast du mal gesehen, wie ein Skorpion einen Sonnenstich bekommt und sich mit seinem eigenen Stachel tötet? Hast du schon mal nachts den Blütenteppich unter Wasser gesehen? Wusstest du, dass ein John Crow eine tote Eidechse auf viele Kilometer Entfernung riechen kann …?« Das Mädchen hatte diese Fragen wie Pistolenschüsse abgefeuert. Nun hielt sie atemlos inne. Dann sagte sie trübsinnig: »Ach, du bist ja auch nur ein Stadtmensch wie alle anderen.«
»Honey, hör mal«, beschwichtigte Bond. »Du weißt diese Dinge eben. Ich kann nichts dafür, dass ich in der Stadt lebe. Ich würde diese Dinge auch gerne wissen. Ich hatte einfach nur nicht diese Art Leben. Dafür weiß ich andere Dinge. Zum Beispiel …« Bond dachte nach. Aber ihm fiel nichts ein, was für sie von Interesse sein könnte. Also beendete er seinen Satz lahm: »Zum Beispiel, dass sich dieser Chinese dieses Mal viel mehr für deinen Besuch hier interessieren wird. Dieses Mal wird er dich davon abhalten wollen, die Insel wieder zu verlassen.« Nach einem kurzen Moment fügte er hinzu: »Und mich ebenfalls.«
Sie drehte sich um und sah ihn neugierig an. »Oh. Warum? Aber eigentlich spielt es gar keine Rolle. Ich verstecke mich einfach tagsüber und hau dann in der Nacht ab. Er hat mir schon Hunde auf den Hals gehetzt, und sogar ein Flugzeug. Bis jetzt hat er mich nicht erwischt.« Sie betrachtete Bond mit neuem Interesse. »Ist er auch hinter dir her?«
»Ja«, gab Bond zu. »Ich befürchte, das ist er. Wir haben das Segel etwa drei Kilometer vor der Insel eingeholt, damit uns das Radar nicht bemerkt. Ich glaube aber, dass der Chinese bereits einen Besuch von mir erwartet. Dein Segel wird gemeldet worden sein, und ich wette, dass er denkt, dein Kanu wäre meines. Also gehe ich jetzt besser meinen Freund wecken, um das mit ihm zu besprechen. Du wirst ihn mögen. Er kommt von den Kaiman-Inseln und sein Name ist Quarrel.«
Das Mädchen sagte: »Es tut mir leid, wenn ich …« Sie sprach nicht zu Ende. Entschuldigungen waren für einen so defensiven Menschen wie sie nicht einfach. »Aber das konnte ich schließlich nicht wissen, oder?« Sie studierte sein Gesicht.
Bond blickte lächelnd in die fragenden blauen Augen.
Weitere Kostenlose Bücher