James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
verschränkten Armen an der Schwelle und lauschte. Zufrieden betrat er langsam den Raum und ging auf das Bett zu. Er kannte den Weg genau. Er beugte sich vor und lauschte den leisen Atemgeräuschen des Mädchens. Nach einem Augenblick griff er an seine Brust und betätigte einen Schalter. Eine Taschenlampe mit einem sehr breiten indirekten Strahl ging an. Sie war auf Höhe seines Brustbeins mit einem Gurt befestigt. Er beugte sich vor, damit das sanfte Licht auf das Gesicht des Mädchens fiel.
Der Eindringling betrachtete ihr Gesicht einige Minuten lang. Eine seiner Hände erschien, griff nach dem Laken, das sie bis zum Kinn hochgezogen hatte, und zog es vorsichtig bis zum Fußende des Betts herunter. Die Hand, die das tat, war jedoch gar keine Hand. Es handelte sich um ein Paar gegliederter Stahlzangen, die am Ende einer Metallkonstruktion befestigt waren, die in einem schwarzen Seidenärmel verschwand. Es war eine mechanische Hand.
Der Mann starrte den nackten Körper sehr lange an und bewegte dabei seinen Oberkörper hin und her, damit er jeden Zentimeter des Mädchens mit seiner Lampe beleuchten konnte. Dann erschien die Klaue erneut, nahm vorsichtig den Zipfel des Lakens am Fußende des Betts und zog es wieder über das Mädchen. Der Mann stand noch einen Moment lang da und starrte das schlafende Gesicht an. Dann schaltete er die Taschenlampe auf seiner Brust aus und bewegte sich leise durch den Raum zu der offenen Tür, hinter der Bond schlief.
Neben Bonds Bett verbrachte der Mann wesentlich mehr Zeit. Er untersuchte jede Falte und jeden Schatten auf dem dunklen, recht grausamen Gesicht, das reglos, fast schon leblos, auf dem Kissen lag. Er beobachtete den Pulsschlag am Hals und zählte ihn, und nachdem er das Laken heruntergezogen hatte, tat er das Gleiche mit dem Bereich um das Herz herum. Er schätzte den Umfang der Muskeln an Bonds Armen und Oberschenkeln ab und starrte nachdenklich auf die verborgene Kraft in dem flachen Bauch. Er beugte sich sogar ganz nah über die offen daliegende rechte Hand und begutachtete ihre Lebens- und Schicksalslinien.
Schließlich zog die Stahlklaue das Laken mit größter Behutsamkeit wieder bis zu Bonds Hals hoch. Eine weitere Minute lang stand die große Gestalt über dem schlafenden Mann. Dann rauschte sie leise davon, in den Flur hinaus, und die Tür schloss sich mit einem Klicken.
IM NETZ DER SPINNE
Die elektronische Uhr in dem dunklen, kühlen Zimmer im Herzen des Berges zeigte halb fünf an.
Außerhalb des Berges neigte sich ein weiterer heißer und stinkender Tag auf Crab Key seinem Ende zu. Am östlichen Ende der Insel baute die riesige Vogelschar – Dreifarbenreiher, Pelikane, Säbelschnäbler, Strandläufer, Silberreiher, Flamingos sowie ein paar Rosalöffler – an ihren Nestern oder fischte im flachen Wasser des Sees. Die meisten Vögel waren in diesem Jahr schon so oft gestört worden, dass sie den Nestbau aufgegeben hatten. In den vergangenen paar Monaten waren sie in regelmäßigen Abständen von dem Monster heimgesucht worden, das in der Nacht kam und ihre Schlafplätze und die Anfänge ihrer Nester niederbrannte. Dieses Jahr würden viele dieser Vögel nicht brüten. Ein paar würden in ein anderes Gebiet weiterziehen, und viele würden an der nervösen Hysterie sterben, die Vogelkolonien befällt, wenn sie nicht länger in Ruhe und Abgeschiedenheit leben können.
Am anderen Ende der Insel, wo sich die Guanera befand, die den Berg wie einen schneebedeckten Gipfel aussehen ließ, hatte ein gewaltiger Schwarm Kormorane den Tag wie üblich damit verbracht, sich mit Fisch vollzufressen und ihrem Besitzer und Beschützer die entsprechende Menge in wertvollem Dünger zurückzubezahlen. Nichts und niemand hatte
ihre
Brutsaison gestört. Nun fummelten sie lärmend mit den unordentlichen Haufen aus Stöcken herum, die ihnen als Nester dienen würden – jeder Haufen war genau sechzig Zentimeter vom nächsten entfernt, denn die Guanokormorane waren streitsüchtige Vögel, und dieser Abstand von sechzig Zentimetern stellte ihren Kampfplatz dar. Schon bald würden die Weibchen je drei Eier legen, mit denen der Schwarm ihres Herrn um durchschnittlich zwei junge Kormorane vergrößert werden würde.
Unter dem Gipfel, wo der Abbau begann, näherten sich die etwa einhundert Männer und Frauen, die als Arbeitskräfte dienten, dem Ende ihrer täglichen Schicht. Weitere vierzig Kubikmeter Guano waren aus der Bergwand herausgegraben und die Arbeitsfläche um knapp
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