James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
statisch und leblos. Bond wandte sich wieder dem Wasser zu. Wie musste es bei Tageslicht aussehen, wenn man zwanzig Meter oder sogar noch weiter blicken konnte? Wie würde es in einem Sturm wirken, wenn die Wellen lautlos gegen das Glas krachten, sich fast bis zum Boden gruben und dann wieder hinauf und außer Sichtweite rollten. Welchen Anblick musste es abends bieten, wenn die letzten goldenen Strahlen der Sonne in die obere Hälfte des Raums schienen und das Wasser darunter voller tanzender Partikel und winziger Wasserlebewesen war? Was für ein erstaunlicher Mensch musste der Mann sein, der diese fantastische und wunderschöne Konstruktion erdacht hatte, und was für eine außergewöhnliche Ingenieurleistung musste es gewesen sein, diese Idee auszuführen? Wie hatte er das bewerkstelligt? Es konnte nur eine Möglichkeit geben. Er musste die Glaswand tief in die Klippe hineingebaut und dann vorsichtig Schicht für Schicht das äußere Felsgestein abgetragen haben, bis die Taucher schließlich die letzte Schicht Korallen entfernen konnten. Aber wie dick war das Glas? Wer hatte es für ihn hergestellt? Wie hatte er es zur Insel transportiert? Wie viele Taucher hatte er eingesetzt? Wie viel konnte das um Himmels willen gekostet haben?
»Eine Million Dollar.«
Es war eine tiefe, wohltönende Stimme, in der die Spur eines amerikanischen Akzents mitklang.
Bond wandte sich langsam, fast schon widerwillig von der Glasscheibe ab.
Doktor No hatte den Raum durch eine Tür hinter dem Schreibtisch betreten. Er stand mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen da und schaute sie gutmütig an.
»Ich vermute, Sie haben sich gefragt, wie hoch die Kosten dafür waren. Nach fünfzehn Minuten denken meine Gäste üblicherweise über den materiellen Aspekt dieser Konstruktion nach. Ging es Ihnen auch so?«
»Allerdings.«
Immer noch lächelnd (Bond sollte sich an dieses schmale Lächeln noch gewöhnen) kam Doktor No langsam hinter dem Schreibtisch hervor und auf sie zu. Er schien eher zu gleiten als zu laufen. Seine Knie beulten den matten, metallisch schimmernden Stoff seines Kimonos nicht aus, und unter dem wehenden Saum waren keine Schuhe zu erkennen.
Bonds erster Eindruck war der eines extrem dünnen, kerzengerade stehenden großen Mannes. Doktor No überragte Bond um mindestens fünfzehn Zentimeter, doch die aufrechte, steife Haltung seines Körpers ließ ihn sogar noch größer wirken. Der Kopf war ebenfalls länglich und verjüngte sich von einem runden, vollkommen kahlen Schädel zu einem spitzen Kinn, sodass der Eindruck eines umgedrehten Regentropfens entstand – oder eher eines Öltropfens, denn die Haut war von einem tiefen, fast schon durchsichtigen Gelb.
Es war unmöglich, Doktor Nos Alter einzuschätzen. Soweit Bond sehen konnte, wies sein Gesicht keine Falten auf. Es war seltsam, eine Stirn zu sehen, die so glatt wie die Oberseite eines polierten Schädels war. Selbst die eingefallenen Wangen unter den hervorstehenden Wangenknochen wirkten so glatt wie feinstes Elfenbein. Die Augenbrauen erinnerten an ein Gemälde von Dalí. Sie waren dünn, schwarz und extrem nach oben geschwungen, so als ob sie das Bühnen-Make-up eines Zauberkünstlers wären. Darunter starrten schrägstehende, pechschwarze, wimpernlose Augen aus dem Schädel. Sie sahen wie die Mündungen zweier kleiner Revolver aus, direkt, starr und vollkommen ausdruckslos. Die dünne, feine Nase endete kurz über dem breiten, zusammengepressten Mund, der trotz seines permanenten unbewegten Lächelns ausschließlich Grausamkeit und Befehlsgewalt ausstrahlte. Das Kinn ging praktisch direkt in den Hals über. Später sollte Bond bemerken, dass es sich nur selten von der Mitte wegbewegte, sodass es so wirkte, als ob der Kopf und die Wirbelsäule eine Einheit bildeten.
Die bizarre, gleitende Gestalt sah wie ein riesiger giftiger Wurm aus, den man in graue Alufolie gewickelt hatte, und Bond wäre nicht überrascht gewesen, wenn hinter dem Mann ein schleimiger Hinterleib über den Teppich gekrochen wäre.
Doktor No blieb drei Schritte vor ihnen stehen. »Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht die Hand gebe«, sagte die tiefe, emotionslose Stimme. »Das ist mir nicht möglich.« Die Ärmel seines Kimonos teilten sich und öffneten sich langsam. »Ich habe keine Hände.«
Die beiden Stahlzangenpaare kamen an ihren schimmernden Metallkonstruktionen zum Vorschein und wurden zur Betrachtung hochgehalten wie die Arme einer Gottesanbeterin. Dann schoben sich die beiden
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