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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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wollte, und folglich auch nicht mit uns.« Er strich sich über den Schnurrbart und zog die Brauen zusammen. »Das heißt natürlich nicht, dass wir ihm nicht helfen wollen, nur sind wir wahrscheinlich keine ergiebige Informationsquelle.«
    »Der Einzige, mit dem er je sprach, war Gary«, sagte Josh, »aber auch das tat er nur selten.«
    »Schade, dass Gary nicht herkommen konnte«, sagte ich.
    »Er ist schon seit einiger Zeit nicht mehr bei uns«, sagte David.
    »Habt ihr eine Ahnung, wo ich ihn finden könnte?«
    Sie tauschten besorgte Blicke aus.
    »Letzten Sommer zog er zu Hause aus. Das Letzte, was wir hörten, ist, dass er irgendwo im Stadtzentrum lebt.«
    »Dr. Flowers sagte mir, er habe großes Interesse an Kunst. Vielleicht ist das ein Anhaltspunkt, was meint ihr?«
    »Sie würden ihn nicht wiedererkennen«, sagte Josh.
    In meiner Erinnerung war Gary ein adretter junger Japaner, in Amerika geboren und aufgewachsen, der großes Interesse für Bauingenieurwesen und Städteplanung hatte. Er baute immer neue Modelle riesiger Siedlungen, und Sarita nannte ihn mir gegenüber aus Spaß immer den kleinen Mies van der Rohe. Ich fragte mich, wie er sich so hatte verändern können, aber bevor ich es aussprechen konnte, ging die Tür auf, und ein kleines Mädchen mit lockigem Haar kam herein. In einer Hand hielt sie eine große Stofftasche, in der anderen einen Pullover. Sie sah verwirrt aus. Sie zögerte, sah auf ihre Füße herab, dann kam sie in bewusster Anstrengung auf mich zu. Ich stand auf und ging ihr entgegen.
    »Hallo, Dr. Delaware«, sagte sie scheu.
    »Grüß dich, Felicia. Wie geht es dir?«
    »Mir geht es gut«, sagte sie mit Singsangstimme, »und Ihnen?«
    »Gut geht’s mir, danke, dass du gekommen bist.«
    Ich bemerkte, dass ich leiser sprach als vorher und in besonders freundlichem Ton, so als spräche ich mit einem furchtsamen Kind. Aber genauso sah sie auch aus.
    Sie setzte sich seitlich in einigem Abstand zu den Jungen. Sie legte ihre Tasche auf den Schoß, kratzte sich am Kinn, sah auf ihre Schuhe und rutschte unruhig hin und her.
    Als Jüngste und Frühreifste aus dem Projekt war sie die Einzige, die den Klischeevorstellungen von einem Genie wirklich entsprach. Sie war klein, hatte verträumte Augen, war ängstlich und lebte in der atmosphärisch dünnen Welt mathematischer Abstraktion. Im Gegensatz zu Josh und David hatte sie sich kaum verändert. Natürlich war sie ein bisschen gewachsen, war vielleicht einen Meter sechzig groß, auch gewisse Anzeichen körperlicher Reife waren an ihr sichtbar, zwei hoffnungsvolle Knospen unter ihrem weißen T-Shirt und Pickel auf der Stirn. Davon abgesehen jedoch war sie noch ganz kindlich, mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck, mit dicken Brillengläsern auf der Nase, die ihre Augen meilenweit entfernt wirken ließen. Ihr lockiges braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre Gliedmaßen zeigten noch Reste von Babyspeck. Ich fragte mich, ob sie wohl zuerst ihren Doktor oder das Ende ihrer Pubertät erreichen würde.
    Ich wollte ihr in die Augen sehen, aber sie hatte bereits ein Spiralheft aus der Tasche gezogen und sich hineinvertieft. Sie war eine Einzelgängerin, darin Jamey nicht unähnlich, während aber seine Zurückgezogenheit auf Verbitterung und Zorn beruhte, war ihre die Folge von ständiger geistiger Betätigung. Sie war von sanftem Temperament und liebenswürdig und gab sich Mühe, Kontakt zu den anderen zu halten, was ihr allerdings nicht selten misslang, da ihre ständige Beschäftigung mit abstrakten Problemen ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte.
    »Wir sprachen gerade über Gary«, sagte ich.
    Sie blickte auf, so als ob sie etwas sagen wollte, dann sah sie wieder auf ihr Heft. Die Jungen redeten leise miteinander.
    Ich sah auf die Uhr, es war zehn nach acht.
    »Wir warten noch, bis Jennifer kommt, und dann fangen wir an.«
    Josh bat darum, telefonieren zu dürfen, David stand auf, ging im Raum umher und summte vor sich hin. Eine Minute später erschien Jennifer, außer Atem und um Entschuldigung bittend.
    »Hallo, Alex«, sagte sie, beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange.
    »Hallo, Jen.«
    Sie trat ein paar Schritte zurück, musterte mich und sagte:
    »Sie haben sich überhaupt nicht verändert!«
    »Aber du«, antwortete ich und lächelte.
    Sie hatte ihr früher langes Haar zu einem Bubikopf schneiden lassen und es von Asch- in Goldblond gefärbt. Sie hatte hohe Backenknochen, und zwei riesige Plastikgebilde hingen

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