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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Papiertüchern auf einem kleinen Tisch in der Nähe des Flügels und brachte es ihr.
    »Vielen Dank.« Sie schluchzte und rieb sich die Augen. »Das ist schrecklich. Ich glaube, ich habe schon genug geweint.«
    Ich berührte kurz ihr Handgelenk und beruhigte sie. Sie brauchte eine Weile, um mit erstickter Stimme weiterzureden.
    »Ich habe in dieser Nacht kein Auge zugemacht, mir war elend zumute. Am nächsten Tag packte Jamey einen Koffer und nahm ihn mit zu Dig. Als er weg war, bin ich in das Gästehaus gelaufen und habe nach dem Kleid gesucht, um es zu zerreißen und zu verbrennen. Als wenn ich dadurch die Erinnerung an die Nacht vernichten könnte. Das Kleid war nicht da, er hatte es mitgenommen. So als eine Art Aussteuer.«
    »Haben Sie jemals mit ihm über den Diebstahl gesprochen?«
    »Nein, warum sollte ich das getan haben?«
    Darauf fand ich keine Antwort.
    »Wann geschah das?«, fragte ich.
    »Vor mehr als einem Jahr.«
    Also bevor die Lavendelmorde begannen. Sie las in meinen Gedanken.
    »Kurz darauf passierten die Morde. Ich habe nie eine Verbindung angenommen. Als sie ihn aber in Digs Haus fanden und ich erfuhr, wessen sie ihn beschuldigen, traf es mich wie ein Schlag. Der Gedanke daran, wie mein Kleid benutzt wurde...«
    Ihr versagte die Stimme, und sie legte die Zigarette wieder ab.
    »Horace meint, dass Transvestismus zum Erscheinungsbild einer schweren geistigen Erkrankung passe. Er hält es auch für bedeutsam, dass das Kleid zu Dig mitgenommen wurde. Es würde beweisen, dass die Morde dort stattfanden und Dig der Haupttäter gewesen ist. Er wollte aber noch Ihre Meinung dazu hören.«
    Bis auf einen wesentlichen Aspekt schien alles zueinander zu passen: Sie hatte ein weiteres Indiz ins Spiel gebracht, das einen Zusammenhang zwischen Jamey und Chancellor und den Lavendelmorden herstellte. Souzas Taktik begann, mich zu verblüffen.
    »Durfte ich Ihnen das erzählen, Doktor?«
    »Ja, Sie sollten aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt darüber schweigen.«
    »Ich hoffte, dass Sie das sagen würden«, antwortete sie erleichtert.
    Ich steckte mein Notizbuch ein und stand auf. Wir wechselten noch einige Artigkeiten und verließen dann den Raum. Sie hatte sich inzwischen beruhigt und war wieder die freundliche Gastgeberin. Beim Hinausgehen fielen mir wieder die Schnitzereien auf der Kamineinfassung ins Auge, und ich ging zurück, um sie mir genauer anzusehen. Ich hob einen der Köpfe hoch, um ihn zu betrachten. Er hatte ein Gesicht - halb Frosch und halb Mensch - gekrönt von einer Art Federhelm, wirkte massiv und unerschütterlich, roh, aber meisterhaft gestaltet und strömte eine zeitlose Kraft aus. »Ist das mexikanisch?«
    »Aus Mittelamerika.«
    »Haben Sie ihn bei einer Expedition gefunden?«
    Sie schien sich zu amüsieren.
    »Wie kommen Sie darauf, dass ich auf Expedition war?«
    »Mr. Souza sagte mir, dass Sie Anthropologin seien. Und Sie sprechen ausgezeichnet Spanisch. Ich habe Detektiv gespielt und mir ausgedacht, dass Sie eine lateinamerikanische Kultur studiert haben müssen.«
    »Horace hat übertrieben. Nach meinem Studium habe ich einen akademischen Grad in Anthropologie erworben, weil ich sonst mit mir nichts anzufangen wusste.«
    »Geisteswissenschaftlich oder technisch?«
    »Beides ein bisschen. Als ich Dwight kennen lernte, hörte ich sofort damit auf. Ohne Bedauern. Ich wollte immer gern Hausfrau sein.«
    Ich fühlte, dass sie meine Zustimmung erwartete.
    »Das ist eine wichtige Aufgabe«, antwortete ich.
    »Ich freue mich, dass Sie das sagen. Das Heim ist das Wichtigste im Leben. Die meisten Leute aus dem Rehabilitationszentrum kannten kein Familienleben. Wenn sie es gehabt hätten, wären sie nie in Schwierigkeiten geraten.«
    Sie verkündete diese Weisheit mit einer aufgesetzten Tapferkeit, die aus Verzweiflung geboren war. Die Ironie in ihren Worten schien sie nicht zu bemerken. Ich behielt meine Gedanken für mich und lächelte begeistert zurück.
    »Nein«, sagte sie mit einem Blick auf die Plastik in meiner Hand. »Ich bekam diese Figur geschenkt, als ich noch klein war. Mein Vater war Diplomat in Lateinamerika, und ich bin dort aufgewachsen. Mit zwölf Jahren konnte ich fließend zwei Sprachen sprechen. Aber inzwischen ist das Spanische bei mir ein wenig eingerostet.« Ich stellte den Kopf wieder auf den Kamin zurück.
    »Warum benutzen Sie nicht wieder den Seiteneingang? Diese Meute wartet draußen immer noch.«
    Wir schlugen den bekannten Weg ein und kamen durch die Küche. Der

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