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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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wert.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Was ich damit sagen will, ist, dass du dich auf Dauer selbst unglücklich machst.«
    Jamey vermied es, mich anzusehen. Das Blut von seiner Ferse tropfte ins Wasser und hinterließ eine rosafarbene Spur.
    »Ich mache dir das alles übrigens nicht zum Vorwurf«, fügte ich hinzu. »Aber du wirst im Laufe deines Lebens mit vielen Enttäuschungen rechnen müssen, wie jeder Mensch übrigens. Und es ist besser, wenn man weiß, wie man damit umgehen soll.«
    »Das klingt ja nach einem fantastischen Plan. Sie haben sich ja echt was ausgedacht. Wann soll’s denn losgehen?«
    »Wann du willst.«
    »Na gut, fangen wir also gleich an. Wie gehe ich mit Enttäuschungen um? Drei Lektionen, und dann kann ich es.«
    »Zuerst muss ich ein wenig mehr über dich erfahren.«
    »Sie wissen doch schon mehr als genug.«
    »Wir haben uns zwar oft genug unterhalten, aber über dich weiß ich nicht sehr viel. Kaum etwas weiß ich über das, was dich stört oder was dich anregt, deine Ziele und deine Wertvorstellungen.«
    »Sie wollen wissen, was ich über Tod und Leben denke, dieses ganze Zeug?«
    »Sagen wir, Zeug, das dir wichtig ist.«
    Jamey sah mich an und lächelte abwesend.
    »Wollen Sie wissen, was ich über Leben und Tod denke, Dr. D.? Ich sag’s Ihnen. Sind beide ziemlich aufregend, aber der Tod ist wahrscheinlich ruhiger.«
    Er legte die Beine übereinander und sah sich seine blutige Ferse an, als ob sie ein biologisches Untersuchungsobjekt sei.
    »Wir brauchen darüber jetzt nicht zu reden«, sagte ich.
    »Ich will es aber. Das ist doch genau das, worauf Sie schon seit Monaten hinauswollen. Stimmt’s? Deshalb waren Sie doch immer so kumpelhaft zu mir, oder? Erst mal’nen guten Kontakt aufbauen, damit man hinterher umso besser lostherapieren kann. Also, reden wir doch besser gleich darüber. Sie wollen wissen, ob ich an Selbstmord denke. Ja, das tue ich, ein- oder zweimal pro Woche.«
    »Gehen solche Gedanken schnell vorüber, oder halten sie sich eine Weile?«
    »Halbe-halbe.«
    »Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie du es tun könntest?« Er lachte laut, schloss die Augen und begann mit leiser Stimme, folgendes Gedicht aufzusagen:
    Da wir nur einmal sterben, ist’s ganz gleich
    Ob mit dem Seil, Gift, Strumpfband oder Schwert
    Ob lang man hinsiecht oder ob das Herz zerspringt
    Und so des Lebens Elend kommt zum Halt.
    So viel der Wege sind, eins ist das Ziel,
    Bis alles auflöst sich im Allgemeinen.
    Er öffnete die Augen wieder. »Tom Chatterton wusste wirklich auf alles eine Antwort, finden Sie nicht?«
    Ich antwortete nicht, und er lachte gequält.
    »Gefällt Ihnen wohl nicht, Dr. D. Was ist Ihnen lieber? Katharsis oder Beichte? Vergessen Sie nicht, das ist mein Leben, und wenn ich beschließe, mich zu verabschieden, dann ist das mein Entschluss.«
    »Aber deine Entscheidung wird anderen Menschen wehtun.«
    »Quatsch!«
    »Niemand lebt im luftleeren Raum, Jamey, andere Menschen mögen dich. Zum Beispiel ich.«
    »Aus welchem Drehbuch haben Sie denn das abgelesen?«
    Die Festung schien uneinnehmbar. Ich suchte nach einem Ausweg.
    »Selbstmord ist eine feindselige Tat, Jamey. Du gehörst zu denjenigen, die das am ehesten wissen müssten.«
    Jamey reagierte schnell und heftig. Seine blauen Augen nahmen einen wütenden Ausdruck an, seine Stimme zitterte vor Zorn. Er sprang auf, wandte sich mir zu und schrie laut:
    »Mein Vater war einen Dreck wert, und Sie sind auch nicht besser, dass Sie ihn ins Spiel bringen!«
    Er fuchtelte mit einem zitternden Finger vor meinem Gesicht herum, Speichel lief ihm aus dem Mund, dann rannte er barfuß im Hof herum. Ich nahm seine Schuhe und Socken und ging hinter ihm her. Nachdem er am Gebäude der Naturwissenschaftler vorbeigelaufen war, bog er blitzschnell nach links und verschwand über eine Treppe. Es war nicht schwer, ihn einzuholen, denn er lief zwar schnell, aber unbeholfen. Bei jedem Schritt stießen seine dünnen, knochigen Beine aneinander wie chinesische Essstäbchen.
    Die Treppe endete auf einer Ladefläche, die zum Chemikalischen Institut gehörte, ein quadratischer, mit einem Ölfilm bedeckter und an drei Seiten von hohen Mauern umgebener, wenig anheimelnder Ort. Der einzige Ausgang war ein grünes Metalltor. Jamey probierte am Schloss, aber es war zugesperrt. Er drehte sich um, wollte wegrennen, da sah er mich, wurde stocksteif und keuchte. Sein Gesicht war bleich und voller Tränenspuren. Ich stellte die Schuhe auf den Boden und

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