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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Seelisch sind sie für das ganze Leben geschädigt, sie haben Angstzustände, Depressionen, körperliche Probleme, aber keiner ist wirklich wahnsinnig geworden. Mein Vater ist ein Beispiel dafür. Die Verrückten, an die er sich erinnert, zeigten diese Symptome schon, als sie in das Lager kamen. Wird das durch die Theorie bestätigt?«
    »Ja, auch durch klinische Erfahrungen. Im Laufe der Jahre habe ich tausende von Kindern und Familien erlebt, die unter einem unvorstellbaren Stress lebten. Ich kann mich nicht erinnern, dass dadurch jemals eine schwerwiegende Psychose verursacht worden wäre. Menschen sind außergewöhnlich widerstandsfähig.«
    Sie dachte darüber nach und erwiderte:
    »Trotzdem ist es sehr einfach, bei Ratten und Affen durch Stress psychotisches Verhalten hervorzurufen. Das hat uns Dr. Gaylord erklärt. Wenn man ihre Käfigböden unter Strom setzt, die Flucht verhindert und sie in unregelmäßigen Abständen Stromstößen aussetzt, drehen sie durch, entleeren sich und werden teilnahmslos. Macht man das über längere Zeit, erholen sie sich nie wieder.«
    Sie hörte auf zu reden und überlegte. »Menschen sind ein bisschen komplizierter, nicht wahr? Als andere Lebewesen, meine ich.«
    »Ja«, ich lächelte sie an, »komplizierter als andere Lebewesen.«
    Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück und erreichten die medizinische Bibliothek fünf Minuten, bevor sie öffnete. Wir holten uns in dieser Zeit Kaffee aus einem Automaten. Der Spaziergang hatte Jennifers Wangen gerötet, ihre gebräunte Haut überzog ein rosa Schimmer, sie war jugendlich straff und faltenlos. Ihr Haar war inzwischen getrocknet und glänzte im Sonnenschein. In ihren Augen spiegelte sich der Himmel.
    Sie legte ihre Bücher ab, hielt die Tasse mit beiden Händen und schwatzte angeregt zwischen den einzelnen Schlucken. Mit jeder Feststellung rückte sie mir ein wenig näher, berührte ab und zu wie zufällig meinen Arm, als ob er ein heißes Eisen wäre. Verschiedene Studenten beobachteten sie und ihre Annäherungsversuche, einige grinsten anzüglich.
    »Es wird Zeit«, sagte ich, nachdem ich auf die Uhr geguckt und meine Kaffeetasse in einen Abfalleimer geworfen hatte.
    Wir betraten die Bibliothek hinter zwei Zahnmedizinern, die Holzkisten trugen, und fanden einen unbesetzten Eichentisch, direkt neben einem Zeitschriftenregal.
    »Wie wollen wir vorgehen?«, fragte sie.
    »Wir sollten die wichtigsten Merkmale auflisten, die Arbeit zwischen uns aufteilen, jeder muss die betreffenden Karteien durchforsten und die Bücher aus dem Regal holen, die am meisten versprechen. Wir verschaffen uns am besten erst einen Gesamtüberblick und treffen uns dann wieder hier mit den wichtigsten Ergebnissen.«
    »Das klingt gut. Was halten Sie davon, den Computer nach den jüngsten Veröffentlichungen zu fragen?«
    »Nach medizinischen?«
    »Und nach psychologischen, ich glaube, er hat auch direkten Zugriff zur Dokumentation der Chemie.«
    »In Ordnung. Sie sollten alle Möglichkeiten nutzen.«
    »Super. Oh, haben Sie ein Konto bei Ihrer Fakultät? Ohne Bezahlung lassen sie keine Datenbankabfragen zu.«
    »Nein, meine Fakultät liegt am anderen Ende der Stadt. Sie haben aber schon Ausnahmen für die Kinderpsychiatrie zugelassen. Benutzen Sie ruhig meinen Namen; wenn sie Schwierigkeiten machen, rede ich mit ihnen.«
    Wir stellten eine Liste auf, teilten uns die Arbeit auf, verabredeten uns für halb zwölf und machten uns altersgemäß ans Werk: Sie schwirrte ab zum Computer, ich blätterte mich mit den Fingern durch zahlreiche Karteien und notierte mir die Abrufnummern, bevor ich den zwölfstöckigen Büchersilo der medizinisch-biologischen Bibliothek betrat.
    Ich begann meine Suche in der psychiatrischen Abteilung und arbeitete mich dann durch die neurologische und verhaltenspsychologische. Je mehr ich die Suche begrifflich einschränkte, desto esoterischer und ausufernder gerieten die Ergebnisse. Nach zwei Stunden hatte ich mich durch viele Fundstellen gerackert, aber wenig erfahren.
    Wie Jennifer doziert hatte, war die Erforschung des menschlichen Bewusstseins mit Versuchen begonnen worden, Psychosen biochemisch zu simulieren. Aufsätze aus den Dreißiger- bis hin zu den Fünfzigerjahren enthielten meistens trockene Abhandlungen, die sich mit molekularen Strukturen auseinander setzten und einen vorsichtigen Optimismus über den zukünftigen Nutzen für die Erforschung der Schizophrenie andeuteten. Ich stieß auf Hoffmanns Darstellung der

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