Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
kurze Drahtenden hervor, zum Anschluss der Elektroden bestimmt - die bei jeder Bewegung ihrer Träger zitterten.
»Alex.« Sie sprang wie erschreckt auf. Durch ihre plötzliche Bewegung veranlasst, fing eine Ratte an zu quieken.
Jennifer war ganz in Schwarz gekleidet: übergroßer Pullover, hautenge Jeans, hochhackige Stiefel. Ihr hellbraunes Haar war noch feucht vom Duschen, ihr Gesicht frisch gewaschen. Schwarze Plastikdreiecke baumelten an ihren Ohren. Sie trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, eine aufgeregte und sehr gut aussehende junge Dame. Weniger als halb so alt wie ich.
»Guten Morgen, Jennifer.«
»Danke, dass Sie runtergekommen sind. Ich war gestern Abend nicht sehr mitteilsam und wollte, weil alles so kompliziert ist, lieber nicht am Telefon darüber reden.«
»Wenn Sie etwas wissen, das Jamey helfen kann, bin ich ganz Ohr.«
Sie sah nervös zur Seite.
»Ich bin mir nicht … wahrscheinlich überbewerte ich es auch. Alles ist nur eine Vermutung.«
Ich setzte mich hin, und sie nahm auch Platz.
»Was haben Sie sich überlegt?«
»Sie erinnern sich doch daran, dass mich die Verschlimmerung seines psychischen Zustands eine Zeit lang beschäftigt hat. Die Argumente, die Sie vorbrachten, haben mich zusätzlich angespornt: keine Anzeichen für eine Geisteskrankheit, der Widerspruch zwischen der ihm unterstellten geistigen Verfassung und der Persönlichkeit eines Serienmörders, die visuellen Halluzinationen, die Fragen über Rauschgiftabhängigkeit. Ich habe lange darüber nachgedacht und habe mich dabei im Kreise bewegt. Ich bin fast verrückt geworden.«
Sie griff nach einem Bleistift auf dem Tisch und benutzte ihn wie einen Taktstock, mit dem sie ihre Darlegungen unterstrich.
»Dann fiel mir auf, dass ich die Sache von hinten aufgezäumt hatte, ich wollte alle Fakten - die Gegebenheiten - unter einen Hut bringen: dass Jamey sowohl geisteskrank als auch ein Serienmörder sein könnte. Die Lösung war, all das über Bord zu werfen und völlig von vorn anzufangen, ein Konzept zu entwickeln, Alternativen zu überlegen und sie zu testen.«
»Welche Alternativen?«
»Alle denkbaren Kombinationen. Beginnen wir damit: Er ist ein Mörder, aber nicht geisteskrank. Jamey ist ein sadistischer, lebensgefährlicher Psychopath, der Schizophrenie vortäuscht, um seine Taten nicht verantworten zu müssen. Das ist eine Taktik, die schon häufig von Massenmördern benutzt wurde - vom Hillside-Würger, vom Son of Sam -, völlig im Einklang mit der manipulativen Struktur von Psychopathen. Aber wie ich gelesen habe, bringt diese Taktik nicht viel.«
»Nein, sie taugt nichts«, erwiderte ich. »Gerichte sind grundsätzlich misstrauisch gegenüber psychiatrischen Beweisführungen. Nur ein Angeklagter, gegen den überzeugende Beweise sprechen, würde es riskieren.«
»Aber Jamey hätte sich der Festnahme entziehen können, Alex. Es besteht kein Grund für jemanden, der so intelligent ist - vorausgesetzt, er ist nicht geisteskrank -, sich blutbesudelt schnappen zu lassen und dann auf eine wenig Erfolg versprechende Verteidigungsstrategie zu setzen. Nebenbei gesagt, konnte er in eine Geisteskrankheit nicht einfach wie in einen Pullover schlüpfen. Lange bevor er verhaftet wurde, hatte sich sein Zustand verschlechtert. Sie glauben doch nicht etwa, dass er das auch vorgetäuscht hat?«
»Nein«, sagte ich. »Er hat zu lange zu sehr gelitten, und sein Zustand hat sich zu stark verschlechtert. Am gleichen Tag, an dem ich mit euch geredet habe, hat er sich gegen die Zellenwand geworfen und liegt mit einem Schädelbruch im Krankenhaus. Das war eine blutige Angelegenheit. Sogar ein Gefängniswärter, der zuerst geglaubt hat, Jamey würde simulieren, wurde nachdenklich, als das passiert war.«
Sie wandte ihr Gesicht zu den Käfigen, beobachtete, wie eine Ratte ihre Schnauze durch das Gitter steckte, und zuckte zusammen.
»Das ist ja entsetzlich. Ich habe es in der Zeitung gelesen, es standen aber keine Einzelheiten darin. Wie geht es ihm?«
»Das weiß ich nicht. Ich wurde von der Verteidigung entlassen und habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.«
Sie war überrascht. Bevor sie ihr Erstaunen in Worte fassen konnte, sagte ich:
»Jedenfalls brauchen Sie mich nicht zu überzeugen, dass er kein Psychopath ist. Wie lautet die nächste Hypothese?«
»Jamey ist psychotisch, aber kein Mörder. Dagegen sprechen zwar die visuellen Halluzinationen und der Drogenmissbrauch, aber beide Aspekte könnten damit erklärt
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