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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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angenommen hatte. Der Foliant war siebzig Jahre alt, hatte des Ausmaß eines Kunstbandes und enthielt kunstvoll bedruckte Seiten aus schwerem Papier mit Einschüben aus Pergament, die girlandenumrahmte, handkolorierte Drucke enthielten. Sein Titel war: Die Klassifikation und Botanik der Phantastica und Euphorica: Forschungsergebnisse über narkotisierende Alkaloide der Eingeborenen von Dr. Osgood Shinners-Vree, Professor der Chemie und der Biochemie, Universität zu Oxford, Mitglied des British Museum.
    Ich las die Einleitung. Ihr Stil war schwülstig und machte den Eindruck, als ob Professor Shinners-Vree sich dafür rechtfertigen wollte, dass er auf der Suche nach bewusstseinsverändernden Pflanzen zehn Jahre im Dschungel verbracht hatte.
    »Die Versuche des Menschen, mittels der pflanzlichen Umwelt seine Sinnesempfindungen zu manipulieren, sind so alt wie die Menschheit selbst«, schrieb er. »Aber erst in diesem Jahrhundert ist es der Wissenschaft gelungen, die Technik zu entwickeln, die chemischen Eigenschaften der Arten aufzudecken, die ich zum Wohle der Menschheit Phantastica genannt habe. Ihr Segen liegt vorwiegend in der Behandlung des Schwachsinns und anderer nervöser und geistiger Erkrankungen, zweifellos werden andere genauso erfolgreich behandelt werden können.«
    Das erste Kapitel enthielt die Geschichte der Hexenkünste des Mittelalters in Europa. Shinners-Vree behauptete, dass Hexen erfahrene Apotheker gewesen seien, die ihre Fähigkeiten für »unheilsamen Handel« benutzt hätten - Giftmischerinnen, die ihre Künste an die »weniger moralischen Mitglieder der oberen Klassen« verkauften. Vom Adel gedungen, um politische und persönliche Feinde zu vergiften, mischten Hexen ein Gebräu mit den folgenden Ingredienzien zurecht:
    »Phantastica alkaloider Eigenschaften aus Bilsenkraut (Hyoscyamus niger) und verschiedenen Auszügen der Tollkirsche (Atropa belladonna). Diese Pflanzen hatten die Eigenschaft, anfallartig Verwirrungszustände und Wahnsinn hervorzurufen, die Tage und Wochen andauern konnten, und waren bei höherer Dosierung tödlich. Die alten Weiber verstanden es, die Alkaloide in ihren Getränken so kunstfertig zu mischen, dass die Wirkungen präzise voraussehbar waren: vorübergehende Verwirrung, längerer Schwachsinn oder Tod - je nach Wunsch.
    Auf diese Weise waren die Hexen des Mittelalters nichts anderes als gute Chemikerinnen, obwohl sie ihre angeblich dämonischen Kräfte dazu benutzten, um sich eine Aura der Macht zu verleihen. Das Gleiche galt auch für die Schamanen und Voodoo-Priester auf Haiti und anderen Inseln der Karibik. Die geistigen und körperlichen Störungen, die sie mit ihren so genannten Zaubertränken hervorriefen, waren nichts anderes als Vergiftungserscheinungen, die auf geschickter Verwendung von Alkaloiden beruhten.«
    Kapitel zwei schilderte die Reisen des Forschers durch Lateinamerika und stellte fest, dass es »in der Neuen Welt eine ungewöhnlich große Flora gibt, die bewusstseinsverändernd wirken kann. Der gi-i-wa, ein Bovist, den die Mixteken benutzten, der den Azteken heilige Pilz teonancatl, auch das göttliche Fleisch genannt, ein Baumschwamm der in Peru lebenden Yurimagua, der Zaubertrank ayahuasca, den die Zaparo aus der Rebe banisteriopsis destillierten, wie Villavicencio (1858) es schilderte - man kann sagen, dass alle diese Stämme alkaloidhaltige Destillate herstellten, deren vorherrschende Grundsubstanz Atropa belladonna bildete. Alle waren fantasieanregend und interessant genug, um sich weiter damit zu beschäftigen.
    Ich habe meine Aufmerksamkeit jedoch auf eine besondere Spezies der Tollkirsche konzentriert, die Datura, eine Untergattung der Brugmansia, sie hat einzigartige nervenwirksame Eigenschaften. Die folgenden Kapitel werden deshalb ausschließlich diesem Thema gewidmet sein.«
    Ich überflog die Illustrationen - lebendige und detaillierte Darstellungen von Sträuchern und kleinen Bäumen mit verschiedenartig breiten Blättern, herabhängenden, trompetenförmigen weißen oder gelben Blüten und großen glatten, kannenartigen Früchten - und schlug Kapitel drei auf.
    Wie der Professor sich ausdrückte, ist » Brugmansia die Urform einer Phantastica, weil einerseits die Einverleibung ihrer verschiedenen pflanzlichen Teile Verhaltenszustände hervorbringt, die perfekt die Symptome akuten Schwachsinns und anderer Geisteskrankheiten vorzutäuschen imstande sind, andererseits vom Menschen in ihren Auswirkungen hinreichend kontrolliert werden

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