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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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seine Beine und legte sie übereinander. Dabei entblößte er Schienbeine, die mit rötlichen Haaren bedeckt waren.
    »Sie müssen wissen«, sagte er dann, »dass Schwule auf eine ganz besondere Art zustechen. Tiefer und häufiger. Siebzig, achtzig, hundert Wunden in einen Körper. Was ist Ihrer Meinung nach die Ursache?«
    »Das vermag ich nicht zu sagen.«
    »Wirklich nicht?«, erwiderte er spöttisch. »Das müssten Sie aber eigentlich wissen. Ein Psychiater, den ich darüber befragte, erklärte mir, dass dabei unterdrückte Aggression im Spiel sei. Alle diese hübschen Bubis benehmen sich fein und vornehm, aber im Inneren brodelt ein Kessel unterdrückter Wut. Und so schneiden sie sich gegenseitig in Stücke. Ergibt das für Sie keinen Sinn?«
    »Die Modalitäten eines Einzelfalls können nicht als Regel für Gruppen gelten.«
    »Hm, hm. Ich dachte nur, Sie hätten vielleicht eine Erklärung dafür.«
    Er fuhr sich mit der Zunge im Mund herum und tat, als ob er intensiv nachdächte. »Wie ist das mit Cadmus? Trägt er Ihrer Meinung nach’ne Menge unterdrückter Wut mit sich rum?«
    »Eine Diagnose aufgrund eines Telefongesprächs ist unmöglich, das sagte ich Ihnen bereits.«
    »Und das haben Sie auch Horace Souza erzählt?«
    »Mein Gespräch mit Herrn Souza ist …«
    »Vertraulich«, äffte er mich nach. »Sie sind ein sehr hartnäckiger Bursche, Sir.«
    »Hartnäckig ist nicht der richtige Ausdruck, es geht hier um Berufsethos.«
    »Vertraulichkeit zwischen Arzt und Patient?«
    »Sehr richtig.«
    »Aber er ist doch nicht mehr Ihr Patient?«
    »Korrekt.«
    »Was ist er dann?«
    »Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
    Er zeigte wieder sein kühles Lächeln.
    »Obwohl er nicht mehr Ihr Patient ist, rief er Sie an. Sind Sie mit ihm befreundet oder so was Ähnliches?«
    »Nein.«
    »Das geschah also aus heiterem Himmel?«
    »Ich bin mir nicht sicher, warum er mich anrief. Vielleicht erinnerte er sich, dass er Vertrauen zu mir haben kann.«
    »Nach fünf Jahren?«
    »Richtig.«
    »Hm, hm. Hat er jemals den Namen Ivar Digby Chancellor erwähnt?«
    »Nein.«
    »Richard Emmet Ford?«
    »Nein.«
    »Darrel Gonzales? Matthew Higbie?«
    »Nein.«
    »Rolf Piper? John Henry Spinola? Andrew Terrence Boyle? Rayford Bunker?«
    »Keinen.«
    »Und wie ist es mit Rusty Nails, Tinkerbell, Angel, Ouarterflash?«
    »Nie gehört.«
    »Hat er keinen je erwähnt?«
    »Keinen Einzigen.«
    »Sie wissen, um welche Leute es sich handelt?«
    »Vermutlich sind sie Opfer des Lavendelschlächters.«
    »Jawohl, alle sind Opfer. Opfer des kleinen Jimmy Cadmus, Ihres angeblich ehemaligen Patienten.«
    Er schoss seine Fragen hinterhältig und ohne Zusammenhang auf mich ab, um meine Abwehr zu durchbrechen und die Initiative zu übernehmen. Diese Technik war mir vertraut. Ich hatte sie schon bei Milo beobachtet und auch bei einigen recht fragwürdigen Psychotherapeuten. Während aber Milo ein Virtuose war, der die Fähigkeit besaß, dumm und ungeschickt aufzutreten, bevor er seinen Fangschuss ansetzte, war Whitehead offenbar wirklich untauglich. Seine Fragen hatten zu nichts geführt, er hatte nichts erfahren und war nun frustriert.
    Ärgerlich fuhr er wieder auf mich los: »Ich will Ihnen mal sagen, was der Junge, den Sie decken, angerichtet hat. Zuerst hat er sie erwürgt, dann hat er ihnen von Ohr zu Ohr die Kehlen aufgeschnitten. ›Ihr letztes Lachen‹ nennen es die Jungs aus der Obduktion. Er hat ihnen allen ein letztes Lachen aufgesetzt. Danach hat er sich mit ihren Augen beschäftigt. Er hat sie mit den Fingern herausgedrückt und zu Brei verarbeitet. Dann hat er sich weiter unten den anderen Kügelchen zugewandt.«
    Er zählte weitere Details der Morde auf, wurde mit jeder abstoßenden Enthüllung zunehmend erregter und stierte mich schließlich an, als ob ich selbst das Messer geschwungen hätte. Seine Feindseligkeit gab mir Rätsel auf. Ich konnte ihm nicht helfen, weil ich so gut wie nichts wusste. Er schien dagegen überzeugt, dass ich ihm etwas verheimlichte, deshalb war mir seine Frustration verständlich. Trotzdem konnte Frustration nicht die einzige Erklärung für den blanken Hass in seinen Augen sein.
    Als er mit den Horrorschilderungen fertig war, nahm Whitehead seinem Kollegen Cash das Notizbuch vom Schoß und begann, es langsam durchzulesen. Der Detective aus Beverly Hills fing an, nervös zu werden. Mit eitler Selbstgefälligkeit befühlte er seine rasierten Wangen, überprüfte seine Fingernägel, nahm seine rosa getönte

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