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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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er früh zu sprechen begonnen?«
    »Allerdings.«
    »Wie alt war er da?«
    »Es ist lange her.«
    »Versuchen Sie, sich zu erinnern.«
    »Augenblick, ich glaube, er war noch kein Jahr alt. Vielleicht sechs Monate. Ich erinnere mich daran, wie mein Vater und Peter eines Tages, als ich Urlaub hatte, versuchten, ihm eine neue Windel anzuziehen. Und da sagte der kleine Kerl plötzlich klar und deutlich: ›Keine Windel.‹ Er redete keineswegs wie ein Baby, die Worte waren gut zu verstehen. Es war seltsam, dass aus dem Mund eines Babys solche Worte kamen. Mein Vater machte Witze und sagte: ›Vielleicht möchte er eine Zigarre‹, aber in Wirklichkeit war er eher betroffen.«
    »Und Peter?«
    »Ihm war es auch nicht angenehm. Aber was hat all das mit dem zu tun, was jetzt passiert ist?«
    »Ich muss so viel wie möglich über ihn wissen. War er noch in anderen Punkten frühreif?«
    »In allem.«
    »Können Sie mir ein paar Beispiele erzählen?«
    Cadmus verzog das Gesicht, er schien verärgert.
    »Auch seine motorische Entwicklung verlief viel schneller als bei anderen Kindern. Mit einem Jahr konnte er in ein Restaurant gehen und sich ein Sandwich bestellen. Unser Kindermädchen sprach Holländisch. Und eines Tages sprach auch Jamey diese Sprache - fließend, einfach so vom Zuhören. Als er drei Jahre alt war, brachte er sich selbst das Lesen bei. Ich kam eines Abends zu ihm ins Zimmer und sah ihn mit einem Buch. Ich fragte ihn, ob ich es ihm vorlesen solle. Er sah mich überrascht an und sagte: ›Onkel Dwight, ich kann doch selber lesen.‹ Ich dachte, er macht mir was vor, und sagte: ›Das möchte ich gerne mal sehen.‹< Er konnte lesen, und wie! Besser als manche meiner Angestellten. Mit fünf Jahren las er jeden Tag die ganze Zeitung von vorne bis hinten.«
    »Wie war er in der Schule?«
    »Ich war tagsüber ja immer mit meiner Firma beschäftigt, deshalb gab ich ihn in eine Krippe. Er machte die Pflegerinnen verrückt. Vielleicht deshalb, weil er so viel schlauer war als sie. Sie erwarteten, dass er sich genauso verhielt wie die anderen Kinder. Aber er zeigte ihnen, dass er sie für dumm hielt, und bat sie immer wieder, ihn in Ruhe zu lassen. Nach meiner Heirat versuchte meine Frau lange, einen geeigneten Kindergarten für ihn zu finden. Sie sah sich mehrere Einrichtungen an, sprach mit Erzieherinnen, bis sie den richtigen gefunden hatte. Es war der beste Kindergarten von Hancock Park, nur wohlerzogene Kinder aus den besten Familien waren dort. Er ging allen mit seiner großen Klappe so auf die Nerven, dass er nach zwei Monaten rausflog.«
    »Weil er so viele Widerworte gab?«
    »Nein, er legte das gesamte System lahm. Er wollte Bücher für Erwachsene lesen, nichts Pornografisches, sondern Faulkner und Steinbeck. Sie wollten es nicht zulassen, wegen der anderen Kinder, was ich auch verstehen kann. Jede Schule hat ein bestimmtes System, dessen Regeln man einhalten muss. Abweichungen bringen alles durcheinander. Er hätte nachgeben müssen, aber er weigerte sich. Wenn sie ihn aufforderten, sich an die Vorschriften zu halten, wurde er wütend, boxte die Erzieherinnen, gab ihnen Tritte ans Schienbein. Eine von ihnen nannte er sogar Nazi oder Ähnliches. So hatten sie nach kurzer Zeit die Nase voll von ihm und warfen ihn raus. Sie können sich denken, was meine Frau dazu sagte, nachdem sie so viel Kraft in die Sache investiert hatte.«
    »Wohin kam er dann?«
    »Nirgendwohin. Er blieb zu Hause, bis er sieben war, er hatte Privatlehrer. Er brachte sich selbst Latein bei, den Stoff von fünf Schuljahren Mathematik und das gesamte Englischpensum der High School. Meine Frau sagte immer wieder, dass er das Sozialverhalten eines Babys hätte. Wir probierten mehrere Schulen aus. Auch eine im Valley, die spezialisiert war auf besonders begabte Kinder. Hier war es genau dasselbe. Er konnte sich nicht anpassen. Immer musste er beweisen, dass er schlauer war als die anderen, und er weigerte sich strikt, sich an die Regeln zu halten. Wenn man sich so benimmt, nützt einem natürlich der beste IQ nichts.«
    »Wenn ich recht verstehe, hat er nie in einer normalen Schulklasse gelebt und entsprechendes Verhalten gelernt.«
    »Allerdings nicht. Wir hätten es so gern gehabt, dass er mit normalen Kindern spielt, aber es klappte einfach nicht.«
    Er legte den Kopf zurück und nahm sein Glas zur Hand.
    »Es war wie ein Fluch.«
    »Was genau?«
    »Dass der Junge intelligenter war, als für ihn gut sein konnte.«
    Ich blätterte eine

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