Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
schon schlafen gegangen. Plötzlich hörten wir seltsame Geräusche von unten, Geschrei, Geheul, lautes Krachen. Heather rief schnellstens die Polizei, ich nahm mein Gewehr und ging nach unten, um zu sehen, was los war. Jamey stand in der Bibliothek. Er war nackt, schrie, warf Bücher aus den Regalen, riss sie entzwei, zerfetzte sie und brüllte wie ein Wahnsinniger. Ich werde es nie vergessen. Ich schrie ihm zu, er solle aufhören, aber er sah durch mich durch, so als sei ich eine Art Geist. Dann kam er auf mich zu, er hatte nicht die geringste Angst vor dem Gewehr. Sein Gesicht war rot und verquollen, er atmete schwer. Ich ging vorsichtig rückwärts und schloss ihn ein. Er machte sich wieder an sein Zerstörungswerk. Ich hörte, wie er weiter Bücher zerriss und zertrampelte. Manche waren alte Bände und ein Vermögen wert. Ich habe sie von meinem Vater geerbt. Aber ich konnte ihn nicht an ihrer Zerstörung hindern, es war mir wichtiger, dass niemand verletzt wurde.«
»Wie lange blieb er in der Bibliothek?«
»Eine Viertelstunde vielleicht, aber es kam mir vor wie Stunden. Endlich kam die Polizei und überwältigte ihn. Es war nicht leicht, weil er sich heftig wehrte. Sie dachten, er hätte Drogen genommen, und riefen einen Krankenwagen. Sie wollten ihn in die Staatliche Psychiatrische Klinik schicken, aber wir hatten gerade eine Woche vorher mit Mainwaring gesprochen und sagten, wir wollten, dass sie ihn nach Canyon Oaks bringen. Es gab erst Schwierigkeiten, aber dann kam Horace - Heather hatte auch ihn gerufen - und regelte alles.«
»Wer hatte Ihnen Dr. Mainwaring empfohlen?«
»Horace. Er hatte öfter mit ihm gearbeitet und sagte, er sei hervorragend. Wir riefen ihn an, weckten ihn, er sagte, er werde gleich kommen. Eine Stunde später kam Jamey nach Canyon Oaks.«
»Nur für zwei Tage zur Ausnüchterung?«
»Ja, aber Mainwaring sagte uns gleich, dass er länger dableiben müsse.«
Er sah auf sein leeres Glas, dann auf die Flasche Glenlivet.
»Den Rest der Geschichte kennen Sie ja«, sagte er kurz.
Er hatte jetzt mehr als eine Stunde lang meine Fragen beantwortet und schien erschöpft. Ich bot ihm an, zu gehen und ein anderes Mal wiederzukommen.
»Zum Teufel, der Tag ist sowieso im Eimer, machen wir doch weiter bis zum Schluss«, sagte er.
Er blickte zur Bar hinüber, und ich sagte ihm, es mache mir nichts aus, wenn er noch etwas tränke.
»O nein«, antwortete er, »nachher denken Sie, ich sei ein Säufer, und schreiben das noch in Ihren Bericht.«
»Da können Sie unbesorgt sein«, ermunterte ich ihn.
»Nein, es ist genug so, ich trinke nie mehr als das. Also, was wollen Sie noch wissen?«
»Wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, dass Jamey homosexuell ist?«, fragte ich und bereitete mich auf eine neue Abwehr seinerseits vor. Aber zu meiner Überraschung blieb er ganz ruhig, schien sogar ein wenig heiter.
»Niemals.«
»Wie bitte?«
»Ich habe nie bemerkt, dass er homosexuell ist, weil er nicht homosexuell ist.«
»Er ist es nicht?«
»Zum Teufel, nein! Er ist ein Kind, das völlig von Sinnen ist und nicht mehr weiß, was Männlein oder Weiblein ist. Normale Kinder in diesem Alter wissen es auch noch nicht, woher soll es dann ein Verrückter wissen?«
»Aber seine Beziehung mit Dig Chancellor...«
»Dig Chancellor war ein alter Lüstling, der gerne kleine Jungen bumste. Ich will nicht behaupten, er hätte es mit Jamey nicht gemacht, aber wenn er es getan hat, dann hat er ihn dazu gezwungen.«
Er sah mich um Zustimmung heischend an. Ich schwieg jedoch.
»Es ist noch viel zu früh. Ein Junge dieses Alters kann sich selbst noch nicht begreifen, er weiß noch nicht genug vom Leben, um zu beurteilen, ob er andersrum ist, stimmt’s?«, fragte er mit Nachdruck.
Er sah mich herausfordernd an. Seine Frage war nicht rhetorisch gemeint, er erwartete eine Antwort.
»Die meisten Homosexuellen fühlen schon in frühem Kindesalter, dass sie anders sind«, sagte ich, verschwieg jedoch, dass Jamey selbst mir das bereits Jahre vor seinem Verhältnis mit Chancellor erzählt hatte.
»Woher wissen Sie das? Ich glaube es Ihnen nicht.«
»Verschiedenste Forschungen haben das ergeben.«
»Was für Forschungen?«
»Fallstudien, Verlaufsberichte.«
»Heißt das, die Leute erzählen Ihnen so was, und Sie glauben es?«
»Im Allgemeinen schon.«
»Vielleicht lügen sie, versuchen ihre Abnormität damit zu entschuldigen, dass sie angeboren ist. Psychologen wissen nichts über die Ursachen von
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