Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Jamey gesagt hatte, überlegte kurz, dann schob ich den Gedanken beiseite.
Vor den Fenstern stand ein niedriger Schreibtisch aus lackiertem Rosenholz, ein Stapel Blaupausen und mehrere Papierrollen lagen darauf.
Im rechten Winkel zu dem Schreibtisch stand eine große Bar, davor zwei mit schwarzer Baumwolle bezogene Sessel. Über dem einen lag eine Anzugjacke.
»Bitte, setzen Sie sich doch, Doktor.«
Ich setzte mich in einen der Sessel und wartete, bis er mit dem Putzen seiner Brille fertig war. Das getönte Glas wirkte im Sonnenlicht goldbraun, die Stadt unter uns war in gelbes Licht getaucht und schien in weite Ferne gerückt.
Cadmus setzte seine Brille auf, ging hinter seinen Schreibtisch und setzte sich auf einen Drehstuhl. Er blickte auf die Blaupausen und vermied jeden Augenkontakt. Er strich sich über sein schon recht schütteres Haar, als könne er sich dadurch mehr Sicherheit geben.
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«, fragte er und schaute zur Bar.
»Nein, danke.«
Von der Straße hörte man plötzlich den misstönenden Lärm verschiedener Autohupen. Er hob die Brauen, drehte sich um und starrte auf die Straße. Als er sich wieder umwandte, war sein Gesichtsausdruck leer.
»Was genau wünschen Sie von mir?«
»Ich möchte, dass Sie mir von Jamey erzählen, angefangen bei seiner Geburt, und dass Sie mir von seiner Entwicklung bis heute berichten.«
Er blickte auf die Uhr.
»Wie lange, glauben Sie, wird das dauern?«
»Wir müssen es nicht in einem Mal machen. Wie lange haben Sie heute Zeit?«
»Nie genug.«
Ich sah ihn ungläubig an. Unsere Blicke begegneten sich, und er versuchte, ruhig und gelassen zu wirken. Dann aber änderte sein Gesichtsausdruck sich.
»Nicht dass Sie mich missverstehen. Ich will nicht kneifen. Im Gegenteil, ich werde selbstverständlich alles tun, was in meiner Macht steht, um Sie zu unterstützen. Gott weiß, dass ich nichts anderes getan habe, seit ich von der Sache weiß. Ich habe versucht zu helfen. Es ist ein Albtraum für mich. Da lebt man jahrelang nach bestem Wissen und Gewissen, sieht zu, dass alles seine Ordnung hat. Man glaubt, man hätte die Weichen richtig gestellt, und dann ist mit einem Schlag alles dahin.«
»Ich weiß, dass es sehr schwer für Sie ist...«
»Für meine Frau ist es viel schlimmer. Sie hängt an Jamey. Wir beide lieben ihn«, fügte er schnell hinzu, »aber sie war ja immer mit ihm zu Hause. Und wenn Sie Einzelheiten wissen wollen, dann sollten Sie lieber mit ihr sprechen.«
»Das habe ich auch vor.«
Er spielte an seiner Krawatte herum.
»Ihr Name kommt mir bekannt vor«, sagte er und blickte zu Boden.
»Wir haben vor fünf Jahren miteinander telefoniert«, sagte ich.
»Vor fünf Jahren? Worum ging es denn?«
Ich war sicher, dass er sich an das Gespräch erinnerte. Er wartete deshalb meine Antwort nicht ab.
»Ach natürlich, jetzt weiß ich es wieder. Sie wollten mich dazu bewegen, ihn in psychiatrische Behandlung zu geben. Ich habe es auch versucht, sprach mit ihm darüber. Aber er wehrte sich mit Händen und Füßen, und ich wollte ihn nicht zwingen. Das ist einfach nicht meine Art. Ich gehöre zu den Leuten, die Probleme lösen und nicht dauernd welche schaffen. Und ich hatte bei Jamey schlechte Erfahrungen gemacht mit Ausüben von Druck.«
»Welcher Art waren Ihre schlechten Erfahrungen denn?«
»Ärger, Kräche, Gebrüll. Meine Frau und ich haben zwei kleine Mädchen, und wir wollten ihnen so etwas ersparen.«
»Es muss für Sie ein schwerer Entschluss gewesen sein, den Jungen in die Familie aufzunehmen.«
»Schwer? Wieso? Es gab gar keine andere Lösung, die gut für ihn gewesen wäre.«
Er stand auf, ging zur Bar, goss sich einen Scotch mit Soda ein.
»Möchten Sie wirklich nichts?«
»Nein, danke.«
Er nahm das Glas mit zu seinem Schreibtisch, setzte sich und nippte daran. Die Hand, in der er das Glas hielt, zitterte fast unmerklich. Er war nervös und wich mir aus, wo er konnte. Ich wusste, dass er noch andere Mittel hatte, mich am Fragen zu hindern. Bevor er sprechen konnte, sagte ich:
»Jamey kam zu Ihnen, nachdem Ihr Bruder gestorben war. Was für ein Junge war er damals?«
Meine Frage überraschte ihn offensichtlich.
»Er war ein kleines Kind.« Er zuckte die Achseln.
»Manche kleinen Kinder sind unkompliziert, andere schwierig. Was hatte Jamey für einen Charakter?«
»Manchmal launisch, manchmal ruhig. Er weinte viel, mehr als meine Töchter. Er war auffallend hübsch, als Baby schon.«
»Hat
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