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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Homosexualität, stimmt’s?«
    »Nein.«
    »Da sehen Sie mal, wie weit es her ist mit der Wissenschaft. Ich folge meiner Nase, und die verrät mir, dass er ein normales Kind ist, das von einem Perversling auf den falschen Weg geführt worden ist.«
    Ich widersprach nicht, sondern fragte:
    »Wie haben Jamey und Chancellor sich kennen gelernt?«
    »Auf einer Party«, sagte er mit seltsamem Nachdruck und nahm die Brille ab. Er stand plötzlich auf und rieb sich die Augen. »Ich glaube, ich habe mich geirrt, Doktor. Ich bin wirklich todmüde. Wir reden ein andermal weiter, ja?«
    Ich nahm meine Notizen, stellte mein Glas ab und stand auf.
    »Selbstverständlich. Wann haben Sie wieder Zeit?«
    »Ich weiß es nicht, rufen Sie meine Sekretärin an, und machen Sie einen Termin mit ihr.«
    Er begleitete mich eilig zur Tür. Ich dankte ihm für die geopferte Zeit, er nickte abwesend, blickte zur Bar hinüber. Ich wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass er sich, sobald ich hinausgegangen war, ein großes Glas Scotch eingießen würde.

12
    An der Ecke Westwood und Wilshire Boulevard war ein Dino Ferrari stecken geblieben. Zwei Männer mittleren Alters in Shorts und T-Shirts bemühten sich, ihn an den Straßenrand zu schieben, sie kümmerten sich nicht um die hupenden Autos hinter ihnen und brachten den Nachmittagsverkehr zum Erliegen.
    Ich saß in meinem Wagen fest und nutzte die Gelegenheit, über mein Gespräch mit Cadmus nachzudenken. Ich fand das Ergebnis ziemlich mager. Durch seine Abwehrhaltung hatten wir viel Zeit verloren, und ich war nicht dazu gekommen, andere wichtige Punkte anzusprechen. Ich fragte mich, was für Geheimnisse er für sich behielt - Dinge, hinter denen sich am meisten verbirgt, sind die besten Bausteine für eine seelische Festung -, und weil ich zu keinem Ergebnis kam, beschloss ich, bevor ich ihn das nächste Mal besuchte, andere Wege zu gehen.
    Der Dino war endlich am Straßenrand gelandet, allmählich löste die Autoschlange sich auf. Bei nächster Gelegenheit bog ich links ab und fuhr über kleine Nebenstraßen nach Sunset. Fünf Minuten später war ich zu Hause.
    In der Post fand ich neben allem möglichen unwichtigen Kram einen Umschlag, der per Kurier aus Beverly Hills gebracht worden war. Er enthielt einen Scheck über fünftausend Dollar und einen Zettel mit der Bitte, einen gewissen Bradford Balch in Souzas Kanzlei anzurufen.
    Das Interview mit Cadmus und die Nullen auf dem Scheck machten mir zu schaffen. Die zwiespältigen Gefühle, die ich von Anfang an gegenüber Souzas Auftrag gehabt hatte, hatten sich noch nicht zerstreut. Im Gegenteil, es stiegen Zweifel an der Richtigkeit meiner Entscheidung in mir auf. Ich hatte den Plan gefasst, in Gesprächen mit Verwandten und Bekannten Jameys Vergangenheit zu rekonstruieren. Ich war sicher gewesen, ihn so besser zu verstehen und ihm helfen zu können. Jetzt kam mir das alles ziemlich unwichtig vor. Man kann zwar aus der Lebensgeschichte eines Menschen einiges für die Zukunft lernen, aber weshalb jemand verrückt wird, kann man damit noch lange nicht erklären. Ich zweifelte, ob ich je genug Informationen zusammenbekommen würde, um Jameys psychischem Verfall wenigstens einigermaßen auf die Spur zu kommen. Wozu aber würde mir das nützen? Nur um Souzas Gewährsmann zu sein? Sollte ich wirklich meinen Doktortitel missbrauchen, um seiner Hexerei vor Gericht das Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit umzuhängen? Der beste Psychotherapeut oder Psychiater, der den Weg wissenschaftlicher Stringenz verlässt und, ohne dass es ausreichend fundiert wäre, anfängt, von mangelnder Zurechnungsfähigkeit zu reden, kann von jedem mittelmäßigen Staatsanwalt vor Gericht lächerlich gemacht werden. Dennoch gibt es genügend Ärzte und Psychologen, die sich für solche Dinge hergeben und auch die damit verbundene Selbsterniedrigung nicht scheuen. Manche sind wie Huren, die sich für einen Tag bezahlen lassen, aber die meisten von ihnen sind durchaus ehrenwerte Fachleute, die der Verführung erlegen sind, sich selbst für Hellseher zu halten. Für mich waren ihre Gutachten nie etwas anderes als öffentliche Quacksalberei, doch jetzt stand ich kurz davor, in ihr Lied einzustimmen. Wie sollte ich denn unter Eid etwas über den geistigen Zustand aussagen, in dem Jamey sich vor einer Woche, vor einem Tag oder nur einer Minute befunden hatte? Niemand würde das können. Ich war in eine ganz schöne Zwickmühle geraten.
    Im selben Augenblick wurde mir bewusst, dass

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