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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Geheimnis nagte in ihm wie ein Wurm, aber wenn er die verächtlichen Scherze seiner Brüder über Schwule und Tunten hörte, wusste er, dass eine Offenbarung seines Wesens ihn ins Unglück stürzen würde; in seiner kindlichen Vorstellung fürchtete er sogar, deshalb getötet zu werden. Deshalb lachte er über ihre Witze, erzählte selber welche, sträubte sich innerlich dagegen, aber überlebte. Den Wert der Privatsphäre lernte er früh schätzen.
    »Ich weiß das«, sagte ich freundlich, »aber die Alternative sieht auch nicht besser aus.«
    Er nickte deprimiert.
    »Ja, das sagt auch Rick. Er möchte, dass ich mich behaupte und kämpfe. Aber zuerst muss ich darüber mit mir selber ins Reine kommen, mich entlasten. Das bedeutet eine Gesprächstherapie, nicht wahr? Rick hat einen Psychiater ausfindig gemacht und erwartet, dass ich mit ihm hingehe. Ich habe mich geweigert, deshalb streiten wir uns ständig.«
    »Wenn du dich unglücklich fühlst, könnte dir eine Therapie helfen.«
    Die Kellnerin brachte sein Getränk. Er nahm es ihr aus der Hand, bevor sie es hinstellen konnte. Während sie sich umdrehte, nahm er schon die ersten Schlucke, und als er das Glas absetzte, war es fast leer.
    »Das bezweifle ich«, antwortete er. »Das ganze Gerede ändert nichts daran, dass ein Polizist in diesem Jahrhundert nicht schwul zu sein hat. Ich wusste, auf was ich mich einließ, als ich zur Polizei ging. Deshalb habe ich mir geschworen, bei allem, was mir zustoßen sollte, niemals meine Würde aufzugeben. Und es gab viele Versuchungen: faschistische Ausbilder, unzuverlässige Scheißkerle wie Radovic. Meistens herrscht kaltes Schweigen. Zehn Jahre schwerer sozialer Isolation. Die letzten Jahre bei der Mordkommission waren die besten, weil Millers Haltung auf die Mannschaft abfärbte. Man respektierte mich, weil ich meine Arbeit gut machte, und das ist alles, was ich verlange. Ich brauchte nicht zu lügen, wenn sie mich nicht allein in ihr Haus einluden. Seit Trapp die Sache in die Hand genommen hat, ist die Zeit gekommen, die Meute auf mich zu hetzen.«
    Sein dritter Drink war verschwunden.
    »Und das Entsetzliche daran ist«, er lächelte benommen, »dass auch ich im Innersten Schwule hasse. Wenn ich eine Tunte sehe, die wie ein Zirkuspferd aufgedonnert ist, denke ich mir: Oh, nein. Erinnerst du dich an den Protestmarsch der Schwulen im letzten Sommer in West Hollywood? Rick und ich standen auf dem Bürgersteig und hatten Schiss, mitzugehen. Es waren verrückte Typen dabei, Alex. Jungen, die sich Schwänze an den Hintern geklebt hatten, Jungen, vorne mit Dutzenden Socken ausgepolstert oder mit Plastikpimmeln, die aus den Hosen baumelten. Männer in engen kleinen Höschen, mit Strumpfhosen, mit feuerrotem Haar und grünen Bärten. Kannst du dir vorstellen, dass sich Feministinnen oder Schwarze wie Schwachsinnige herausputzen, um politische Ziele zu erreichen?«
    Er blickte sich suchend nach der Kellnerin um.
    »Und genau der gleiche verdammte Exhibitionismus spielt auch beim Totschlag eine Rolle. Wenn Schwule sich umbringen, treiben sie es verrückter und blutiger als irgendjemand sonst. Ich habe mal einen Mordfall bearbeitet, bei dem die Leiche hundertsiebenundfünfzig Stichwunden aufwies. Stell dir das vor. Die heile Haut war nicht größer als eine Briefmarke. Der Täter wog siebenundneunzig Pfund und sah wie Peter Pan aus. Das Opfer war sein Liebhaber, und er schluchzte wie ein Baby, weil er ihn vermisste. In einem anderen Fall griff sich so ein Witzbold eine Hand voll Dachdeckernägel, bildete damit eine Faust und stieß sie einem anderen Jungen in den Hintern. Dann drehte er sie so lange, bis dem armen Schwein der Darm riss und er verblutete. Ich könnte dir noch ganz andere Sachen über Schwule erzählen, du wirst mich aber schon verstanden haben. Das ist ein verdammt großes Scheißhaus da draußen, und Trapp stößt mich Tag für Tag von neuem hinein, ohne Wasserspülung.«
    Er machte die Kellnerin auf sich aufmerksam und winkte sie zu sich.
    »Wollen Sie noch ein Glas, Sir?«, fragte sie zweifelnd.
    »Nein.« Er lächelte unsicher. »Ich brauche Vitamine. Bringen Sie mir einen doppelten Screwdriver.«
    »Gern, und für Sie immer noch nichts, Sir?«
    »Bringen Sie mir eine Tasse Kaffee.«
    Als sie gegangen war, fuhr er fort:
    »Das Evangelium nach Trapp lautet, dass ich mich so gut in diesem Scheißhaus auskenne, weil ich sowieso dahin gehöre. Dass er das weiß, macht mich so wütend. Als ob die Zeugen wüssten, dass

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