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Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall

Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall

Titel: Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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sein Vater quer über den schattigen Hof hinweg.
    »Was?«, gab Tannenberg mürrisch zurück.
    »Habt ihr wirklich eine weiße Lilie auf dem Gedenkstein an der Jammerhalde gefunden?«
    »Woher weißt du denn das schon wieder?«, fragte sein Sohn mit geschürzten Lippen.
    »Spielt keine Rolle. Ich hab eben meine Informanten«, prahlte der Senior.
    »Von wem hast du das?«, setzte Tannenberg nach.
    Doch Jacob wollte seine Quelle partout nicht preisgeben. Mit einem verschmitzten Lächeln verkündete er: »Hör dir besser mal an, was dein Bruder dazu herausgefunden hat.«
    »Wozu?«
    Margot hatte in der Zwischenzeit ein Weizenbierglas befüllt und eine angeschnittene Zitronenscheibe auf den wulstigen Glasrand gesteckt. Schmunzelnd drückte sie es ihrem jüngsten Sohn in die Hand: »Hast du denn schon etwas zu Abend gegessen, Wolfi?«
    Während der Kriminalbeamte mit einer Kopfbewegung verneinte, ergriff sein Bruder Heiner das Wort: »Weißt du zufällig, welche herausragende Bedeutung die Lilie in der althochdeutschen Poesie besaß?«
    »Nein«, erwiderte Tannenberg und ließ sich schlaff auf einen Gartenstuhl niedersinken.
    »Du solltest dich wirklich überaus glücklich schätzen, dass an diesem schnöden Orte ein solch begnadeter Germanist weilt«, posaunte Heiner in Poetenmanier heraus.
    Sein Bruder blies die Backen auf und pustete die Luft so über die Lippen hinweg, dass diese einen vibrierenden Ton von sich gaben.
    Heiner suchte sich derweil eine zentrale Position im Innenhof der großfamiliären Wohnanlage und begann gestenreich zu dozieren: »In mehreren Gedichten meiner leider schon längst verblichenen Schriftstellerkollegen heißt es, die Lilie sei die Blume der Toten.« Ergriffen lauschte er einen Moment dem Nachhall seiner vermeintlich wohlgeformten Worte. »Man sagt, sie gedeihe am prächtigsten auf den Gräbern unschuldig Hingerichteter.« Er beugte sich leicht nach vorne. »Durchaus interessant, nicht wahr, geliebtes Bruderherz?«
    Der Kriminalbeamte gab nur ein kurzes Grunzgeräusch von sich, dann nahm er einen großen Schluck Weizenbier und wischte sich anschließend mit dem Handrücken den Schaum vom Mund.
    Aber Heiner war noch nicht fertig: »Außerdem spielt die Lilie fast überall dort eine Rolle, wo sich meine Poeten-Kollegen in ihren lyrischen Werken mit Familienwappen beschäftigt haben. So ist zum Beispiel die Lilie die Wappenblume des französischen Königshauses. Das hast du doch auch nicht gewusst, oder täusch ich mich da?«
    Tannenberg schüttelte den Kopf.
    »Dann hast du sicherlich auch noch nichts von der sogenannten ›Lilien-Legende‹ des Klosters Corvey gehört.«
    »Nein«, ließ sein Bruder einsilbig verlauten. Die Verwunderung über das, was ihm da gerade zu Ohren kam, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
    »Nach dieser alten Legende lag exakt drei Tage vor dem Tod eines Klosterbruders eine weiße Lilie auf seinem Platz in der Kirche. Angeblich wusste niemand, wo diese Blume hergekommen war. Und nun der Clou: Genauso wie die Lilie verwelkte nun auch er – und starb am dritten Tag.«
    Tannenberg dachte sofort an die Aussage Dr. Schönthalers, dass das Mordopfer vor etwa drei Tagen gestorben sei. Aber er kam nicht dazu, sich eingehender mit dieser Assoziation zu beschäftigen, denn Heiner wartete bereits mit einer weiteren Überraschung auf.
    »Es ist wirklich mehr als merkwürdig, aber irgendwie scheinen mich deine makabren Mordfälle künstlerisch extrem zu inspirieren«, versetzte er lächelnd. »Meine kriminalpoetische Kreativität erhält davon stets einen enormen Schub.«
    Er lief gemütlich zur Gartenmauer, auf der eine dünne Tapetenrolle und eine Bildzeitung lagen. »Diesen Artikel mit der Überschrift ›Gerächt‹ habe ich heute Morgen in Vaters Lieblingszeitung entdeckt«, sagte er und zitierte die entsprechende Textpassage: »Gerächt: In Tansania hat ein trauernder Mann auf ungewöhnliche Weise Rache für den Tod seiner geliebten Frau genommen. Der 72-Jährige fand die Leiche seiner Frau von einem Löwen halb zerrissen im Wald. Er verließ den Fundort, ging nach Hause und besorgte sich Rattengift und Insektizide. Damit versetzte er die sterblichen Überreste. Der aggressive Löwe kam später zurück, um auch noch die Reste seiner Beute zu verzehren – und verendete am Gift.«
    Während Heiner nun die Tapetenrolle behutsam auseinanderwickelte, redete er unverdrossen weiter: »Diesmal ist mir sogar etwas ausgesprochen Künstlerisches gelungen«,

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