Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
»Vielleicht handelt es sich bei diesem Toten ja um Graf Dracula höchstpersönlich, dem eine hasserfüllte Frau einen Pflock ins Herz gerammt hat.« Tannenberg bedachte seinen Freund mit einem Scheibenwischergruß. »Du bist doch nicht ganz dicht!«
Dr. Schönthaler warf ihm einen giftigen Blick zu. »Halt ihn jetzt endlich mal fest«, fuhr er Wolfram Tannenberg so heftig an, dass dieser nun urplötzlich doch gehorchte und das Mordopfer mit beiden Händen in der Seitenlage stabilisierte.
Der Rechtsmediziner öffnete die Hose des Toten und schob sie über das Gesäß. Dann führte er eine rektale Körpertemperatur-Messung durch. Nachdem er das Ergebnis auf das Diktiergerät gesprochen hatte, leuchtete er mit seiner lichtstarken LED-Taschenlampe auf diejenige Stelle des Waldbodens, auf welcher der Rücken des Toten noch bis vor ein paar Sekunden gelegen hatte. »Das passt ja ganz genau!«, stellte er nickend fest.
»Was?«
»Hier ist die Tatwaffe in den Waldboden eingedrungen.«
»Bist du da ganz sicher?«
Dr. Schönthaler saugte nachdenklich die Wangen ein und blickte kurz in das dichte Blätterdach über seinem Kopf. In ein schmatzendes Geräusch hinein erwiderte er: »Hundertprozentig natürlich nicht, aber es sieht ganz danach aus. Das muss der Mertel nachher genauer untersuchen.«
»Das würde ja bedeuten, dass der Täter sein Opfer exakt hier an dieser Stelle getötet hat.« Er legte die Stirnpartie in Falten, strich sich nachdenklich über sein unrasiertes Kinn. »Oder wurde er etwa doch durch die Enthauptung …«
»Bevor du jetzt weitersprichst und dich mal wieder bis auf die Knochen blamierst –«, unterbrach ihn der Gerichtsmediziner. Er hielt kurz inne, grinste schelmisch und vollendete anschließend seinen Satz: »Werde ich dir nun ein wichtiges Obduktionsergebnis präsentieren.« In Lehrer-Lämpel-Manier hob er den Zeigefinger: »Pass ja ganz genau auf, was ich dir jetzt mitteilen werde.«
Während Dr. Schönthaler tief Luft schöpfte, wischte Tannenberg angewidert einige Waldameisen von seiner linken Hand.
Unterdessen fuhr sein Freund fort: »Dem Mann, den ich heute Nacht obduziert habe, wurde post mortem der Kopf abgetrennt.«
»Also wurde er erst nach seinem Tode enthauptet«, brabbelte Tannenberg leise vor sich hin.
Allerdings nicht leise genug, denn Dr. Schönthaler hatte gute Ohren. Er verzog seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln: »Ist zwar genau dasselbe, was ich eben gesagt habe, stimmt aber trotzdem.«
Der Leiter des K 1 ignorierte die paradoxe Bemerkung. »Dann scheidet wohl möglicherweise auch bei unserem zweiten Toten ›Enthauptung‹ als Todesursache aus.«
»Kann durchaus sein, ja.«
»Also wurde dieser Mann hier durch einen Stich ins Herz getötet.«
»Nein!«, stellte der Rechtsmediziner kurz und bündig fest. »Weder das eine, noch das andere«, ergänzte er mit bühnenreifer Betonung.
»Was?« Tannenbergs verdutzte Mimik sprach Bände. »Ich kapier allmählich überhaupt nichts mehr.«
»Das ist ja nicht gerade ungewöhnlich für dich. Aber du hast wiedermal großes Glück, denn die therapeutische Arbeit mit chronisch Begriffsstutzigen ist eines meiner Spezialgebiete. Deshalb versuche ich es gerne noch einmal: Weder die Perforation des Herzmuskels durch irgendein Stichwerkzeug noch eine Enthauptung kommen als Todesursache in Betracht.«
»Bitte?« Verdutzt schob Tannenberg die Brauen zusammen und zog das Kinn an seinen Hals. »Tut mir leid, Rainer, aber da komm ich einfach nicht mehr mit.«
»Auch das ist ja nicht unbedingt ein neues Phänomen bei dir!«
»Lass jetzt endlich die Katze aus dem Sack«, forderte Tannenberg mit einer scharfen Klangfärbung versetzt.
»Also gut, dann präsentiere ich dir hiermit ein weiteres Obduktionsergebnis«, zeigte sich der Rechtsmediziner nun endlich kooperativer: »Todesursache war eindeutig eine Lähmung der Atemmuskulatur.« Während seinem Freund die Kinnlade herunterfiel, orakelte Dr. Schönthaler: »Und ich vermute mal tollkühn, dass auch dieser Herr hier auf exakt die gleiche Weise zu Tode gekommen ist.«
Er drehte nacheinander die Handflächen des Opfers zu Tannenberg hin und verkündete: »Bei beiden Toten ist auffällig, dass an ihren Händen keinerlei Abwehrverletzungen zu finden sind. Und genau diese wären sichere Anzeichen dafür, dass sich die Opfer gewehrt haben. Wie du bei diesem Herrn hier mit eigenen Augen feststellen kannst, ist nichts Derartiges vorhanden: keine Schnittwunden, keine Hämatome,
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