Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
diesmal allerdings ein wenig zu früh gekommen sind. Denn Calliphora-Larven gibt es jetzt leider noch keine zu erbeuten. Was uns wiederum darauf hinweist, dass der Herr hier im Gegensatz zu seinem Vorgänger wohl bei weitem noch keine drei Tage tot sein dürfte.«
Als Tannenberg diese Zeitangabe vernahm, musste er unwillkürlich an die Corvey-Legende denken. Daraufhin schnellte sein Kopf abrupt zum Gedenkstein hin, wo immer noch die weiße Plastiklilie lag. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm ins Genick.
Ohne auf das schmerzvolle Aufstöhnen seines Freundes zu reagieren, schob Dr. Schönthaler das hellblaue T-Shirt des etwa 40-jährigen Mannes nach oben bis unter die Achseln. Er zückte sein Diktiergerät und schaltete es ein.
Nachdem er detaillierte Angaben zu einer circa drei Zentimeter langen, schlitzartigen Stichwunde schräg unterhalb der linken Brustwarze des Toten gemacht hatte, inspizierte er die stark ausgebildeten Leichenflecken. Zuerst drückte er behutsam, dann bedeutend kräftiger auf einen der grau-violetten Totenmale.
»Leichenflecke nur noch mit festem Fingerdruck wegdrückbar und nicht mehr verlagerbar«, besprach er sein Diktaphon. Anschließend schaltete er das Aufnahmegerät aus und wandte sich zu seinem Freund um: »Und das bedeutet, Herr Hauptkommissar?«
Tannenberg hatte immer noch die Hand im Genick und antwortete mit schmerzverzerrter Mimik: »Dass der Tod vor etwa sechs bis zwölf Stunden eingetreten sein muss. Mann, was soll diese blöde Frage? Das ist ja wohl nicht meine erste Leiche. – Oh, verdammt, tut das weh!«
»Hör endlich auf zu jammern, du alte Memme! Hilf mir lieber, den Kameraden auf die Seite zu legen.«
Die Vorstellung, an einem kopflosen menschlichen Körper herumzuhantieren, ließ Tannenberg erschaudern. Er machte eine abwehrende Geste und ging einen Schritt zurück.
Dr. Schönthaler hatte natürlich die abweisende Reaktion seines manchmal recht zartbeseiteten Freundes vorausgesehen. Deshalb schritt er sogleich eigenhändig zur Tat und hob den Oberkörper so weit an, dass er den Rücken des Opfers begutachten konnte. »Dann schau dir das hier wenigstens an, du elendes Weichei!«, schimpfte er.
»Was denn?«, knurrte Tannenberg mit geschürzten Lippen.
»Siehst du da hinten die Austrittsstelle des Tatwerkzeugs?«
Als Antwort ertönte ein tiefes Brummgeräusch.
»Und weißt du, was das Interessante daran ist?«
»Na, sag’s halt.«
»Die Austrittswunde weist in etwa die gleiche Länge auf wie die Eintrittswunde.« Er fixierte sein Gegenüber mit einem stechenden Blick. »Und das heißt?«
Tannenberg blies die Backen auf und lupfte die Schultern.
Doch bevor er etwas entgegnen konnte, beantwortete der Rechtsmediziner selbst die Frage: »Das heißt: Der Täter hat eine scharfkantige, allem Anschein nach beidseitig beschliffene Klinge durch den Thorax hindurchgetrieben. Und das mit einem hohen Krafteinsatz.«
»Und das wiederum heißt«, versetzte der Kriminalbeamte, der sich nicht gerne über den Mund fahren ließ – auch von seinem besten Freund nicht, »wir haben es mit einem kräftigen Täter zu tun. Also erfahrungsgemäß wohl mal wieder mit einem Vertreter unseres eigenen, mordlüsternen Geschlechts.«
»Ach, Wolf, du legst dich einfach immer viel zu schnell und vor allem auch total eindimensional fest«, kritisierte Dr. Schönthaler. »Es kommt genauso gut eine Frau als Täterin in Betracht. Und zwar eine, die einen unheimlichen Hass mit sich herumträgt. Dann sind selbst Frauen zu solch barbarischen Kraftakten fähig.«
»Wenn du das sagst.«
Als er Tannenbergs sowohl skeptisches als auch abschätziges Mienenspiel bemerkte, schob der berufserfahrene Pathologe in energischem Ton nach: »Selbstverständlich! Die Frau musste nur den, den …« Offenbar suchte er nach einem passenden Begriff. Nachdem er diesen aber nicht gleich fand, griff er auf die erstbeste Inspiration zurück, die in seinem Bewusstsein aufgeblitzt war. »Sagen wir mal Metallpflock.«
»Metallpflock?«, wiederholte der Kriminalbeamte mechanisch.
»Metallpflock – Blödsinn!«, korrigierte sich Dr. Schönthaler sogleich. »Nehmen wir einfach mal an, es war irgendein unbekannter Gegenstand mit einem Griff am Ende einer langen Klinge. Den kann die Frau auf die Brust des Opfers aufgesetzt und in den Thorax hineingeschlagen haben. Zum Beispiel mit einem Gummihammer.«
»Mit einem Gummihammer?«, prustete der Leiter des K 1 los, wobei er das letzte Wort in sehr hoher Tonlage ausstieß.
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