Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
»Er ist unten.«
Eine detailliertere Ortsangabe erübrigte sich, denn es gab nur einen einzigen Raum im Keller, in dem sich der Senior freiwillig länger als die zum Getränkeholen oder zur Heizungskontrolle benötigte Zeit aufhielt. Außerdem war es im Souterrain mucksmäuschenstill. Ein weiterer untrüglicher Hinweis auf seinen mutmaßlichen Aufenthaltsort.
Tannenberg trippelte die Stufen hinunter, zog den Kopf ein und ging ein paar Meter durch den modrig riechenden Flur. Vorsichtig drückte er die Tür ins Innere eines etwa fünfzehn Quadratmeter großen, fensterlosen Raums. Das Szenario, welches sich gerade in sein Blickfeld schob, hatte er in seinem Leben schon so oft gesehen. Trotzdem fühlte er sich jedes Mal einen Moment lang zurück in seine Kindheit versetzt. Heiner und er hatten sich früher hier unten stundenlang aufgehalten.
Jacob saß auf einem Hocker und verfolgte mit großen Augen die Fahrt einer seiner wertvollen Märklin-Eisenbahnen, die er gerade in Bewegung gesetzt hatte. Nach einer lang gezogenen Kurve verschwand sie in einem Bergmassiv, um nur wenig später auf der anderen Seite ratternd den Tunnel wieder zu verlassen.
Diese riesige Modelleisenbahn-Anlage war sein ganzer Stolz. In mühevoller Kleinarbeit hatte er sie im Laufe der Jahre immer weiter perfektioniert. Das Schmuckstück der prächtigen Miniaturlandschaft war ein maßstabsgetreuer Nachbau der Burgruine Hohenecken, die einen bewaldeten Bergrücken krönte. Der von einer Dampflok gezogene Personenzug kam direkt vor ihm zum Stillstand.
»Kaiserslautern Hauptbahnhof«, verkündete er mit einer mechanisch klingenden Stimme. »Direkter Anschluss auf Gleis 3 an die Lautertalbahn in Richtung Wolfstein. Halt in Otterbach, Katzweiler, Hirschhorn, Olsbrücken, Kreimbach-Kaulbach.«
Als Tannenberg den Namen ›Hirschhorn‹ hörte, musste er unwillkürlich an einen alten Kumpel denken, mit dem er in seiner wilden Jugendzeit jahrelang die sogenannte ›Alte Welt‹ unsicher gemacht hatte.
Kurz nach Beendigung seiner Bahnsteigansage zeigte Jacob mit glänzenden Augen auf die imposante Dampflokomotive, deren knallrotes Räderwerk einen gelungenen optischen Kontrast zu ihrem pechschwarzen Korpus bildete. »Ist die BR 50 nicht die schönste Lok, die jemals gebaut wurde?«
»Doch, Vater, das ist sie wirklich«, entgegnete sein Sohn, der ebenso wie sein älterer Bruder die väterliche Begeisterung für historische Dampflokomotiven teilte.
»1. Baujahr?«
»1938«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Richtig!«, lobte der Senior. »Leistung?«
»1600?«, antwortete sein Sohn, diesmal allerdings weitaus weniger von der Richtigkeit seiner Antwort überzeugt.
»Falsch! 1625 PS. – Länge über Puffer?«
Der Leiter des K 1 wurde ungeduldig. »Weiß nicht mehr so genau. Ich muss jetzt auch wirklich los. Warum sollte ich denn so dringend zu dir kommen?«
Jacob ignorierte zunächst die Frage. »Schwaches Bild, mein Junge! Länge über Puffer: 22940 mm.«
»Ich hab jetzt wirklich keine Zeit für deine Quizfragen«, gab Tannenberg barsch zurück. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür.
»An deiner Stelle würde ich mir jetzt sehr gut überlegen, ob ich mir diese einmalige Chance entgehen lasse«, meinte Jacob.
»Welche einmalige Chance denn?«, fragte Tannenberg lachend.
»Die große Chance, den Köpfer zu fassen.«
»Wen?«
Jacob hob die neben seinem Hocker auf dem Boden liegende Bildzeitung auf und reichte sie dem verblüfften Kriminalbeamten. ›Der Köpfer hat wieder zugeschlagen‹ war auf der Titelseite zu lesen. Darunter befand sich ein Foto des Jammerhalden-Findlings, der passend zum reißerischen Text wie ein Grabstein aussah.
Tannenberg überflog den Text. »Verdammt noch mal, woher wissen die das denn alles schon wieder? Wer hat ihnen das mit dem T61 gesteckt?«
»Stimmt also«, freute sich der Senior über die ungewollte Bestätigung des zuständigen Ermittlungsbeamten. »Gott sei Dank gibt es die Bildzeitung ! Da erfahr ich wenigstens etwas über die spannenden Mordfälle, die quasi direkt vor meiner eigenen Haustür passieren. Du würdest deinem armen alten Vater ja nie freiwillig etwas darüber erzählen. Obwohl du in meinem Haus wohnst.«
Tannenberg fühlte sich wie ein gemaßregelter Schuljunge und blickte deshalb ein wenig betreten vor sich auf den Fußboden.
Empört blies Jacob die Backen auf. »Weil du Angst hast, ich würde deine sogenannten Dienstgeheimnisse im ›Tchibo‹ ausplaudern. Pah, dass ich
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