Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
Computer und Internet. Dieses Medium hatte ihn von Beginn an in Beschlag genommen. Wie ein kleines Kind vor dem geschmückten Christbaum, saß er täglich staunend vor seinem Computer und surfte stundenlang durch das Worldwideweb.
So auch an diesem Abend. Nach dem obligatorischen Krimi verabschiedete sich Margot ins Bett und Jacob konnte ungestört in die virtuelle Welt eintauchen. Zuerst sichtete er seine Mailbox und wechselte danach auf eine seiner Lieblingsseiten über. Durch Zufall war er irgendwann einmal auf eine Organisation gestoßen, die sich ›Pfalzfreunde in Bayern‹ nannte. Diese völlig unbekannten Menschen waren ihm sofort ausgesprochen sympathisch erschienen, forderten sie doch seit vielen Jahren etwas, das auch er aus vollem Herzen unterstützen konnte: Die Wiedereingliederung der Pfalz in den Freistaat Bayern.
Nicht nur zu Jacobs Leidwesen war 1956, im Geburtsjahr seines Sohnes Wolfram, ein Volksbegehren gescheitert, das den Pfälzern die Rückkehr in den Freistaat ermöglicht hätte. Zudem waren die in den letzten Jahrzehnten mehrfach erfolgten Eingaben und Verfassungsbeschwerden mit kalter Hand abgeschmettert worden.
In Erinnerung an die 130 Jahre andauernde enge geschichtliche Verbundenheit der Pfalz mit diesem kraftstrotzenden, selbstbewussten Bundesland hatte Jacob schon vor langer Zeit neben seinem Bett einen Holzteller aufgehängt. Er trug die Inschrift ›Bayern und Pfalz, Gott erhalt’s‹.
Vor einigen Monaten hatte der Senior einen Silberstreif am Horizont entdeckt: die anstehende Föderalismusreform. Er hatte sich gleich mit mehreren E-Mails an Politiker und Institutionen gewandt und ihnen einen Vorschlag unterbreitet, mit dem sich in Zeiten knapper Staatskassen eine Menge Geld einsparen ließe.
Schließlich würde man dadurch auf die Ausgaben für ein ganzes Bundesland verzichten können – mit all seinen überflüssigen Ministerien, seinem Landtag, seiner Rundfunkanstalt etc. Jacobs Idee war ebenso einfach wie genial: Die Pfalz zurück zu Bayern und das Saarland verschmolzen mit dem Rheinland. Damit wäre seine Heimat wieder dort, wo sie nach seiner Auffassung historisch auch hingehörte – und das ungeliebte Saarland wäre endlich als eigenständiges Bundesland von der Landkarte verschwunden.
Nach dem virtuellen Besuch bei den Pfalzfreunden führte er einige Online-Überweisungen durch, um anschließend dem Ganzen das Sahnehäubchen aufzusetzen und in genealogischen Datenbanken zu stöbern. Die Ahnenforschung war eine seiner großen Leidenschaften. Die eigene Familiegeschichte hatte er lückenlos bis ins Jahr 1540 dokumentiert und via Internet sogar schon einige bislang unbekannte Verwandte in den USA ausfindig gemacht.
Scheinbar ohne konkreten Anlass schweiften seine Gedanken mit einem Mal zurück zum ›Tchibo‹-Stammtisch. Aus einem dumpfen Hintergrundgemurmel heraus klang ihm plötzlich ein abgerissener Gesprächsfetzen im Ohr: ›Rollenspiel‹.
Rollenspiel?, wiederholte er in Gedanken. Angestrengt grübelte er darüber nach, in welchem Zusammenhang dieser Begriff vorhin gefallen war. Dann erinnerte er sich daran: Ein ehemaliger ›Pfaff‹-Mitarbeiter hatte dieses Wort in einem Nebensatz verlauten lassen. Scherzhaft hatte er gemeint, dass ihn die Morde an der Jammerhalde irgendwie an diese historischen Rollenspiele erinnerten, die sein Enkel häufig im Internet spiele.
Jacob rief eine Suchmaschine auf, hämmerte die beiden Begriffe ›historische‹ und ›Rollenspiele‹ in die Tastatur und verknüpfte sie mit einem Pluszeichen.
Zunächst surfte er von oben nach unten die aufgelisteten Links ab, verweilte hier ein paar Sekunden, da ein paar Sekunden. Dann betrat er den ersten Chatroom. Die nächsten beiden Stunden vergaß er alles um sich herum. Er verspürte weder Hunger noch Durst noch Müdigkeit. Noch nicht einmal den Schweiß wischte er sich von seiner Stirn.
Gebannt stierte er die ganze Zeit auf den Flachbildschirm. Er konnte einfach nicht glauben, was er da sah. Er sprang von einem Diskussions- oder Hilfeforum zum anderen, von einem Chatroom in den nächsten, von einem Gästebuch ins andere. Er saugte die Worte, die er da mit geröteten Augen las, regelrecht aus der Mattscheibe heraus. Plötzlich hielt er den Atem an, warf sich die linke Hand an den Hals, während die andere die Computermaus zu zerquetschen schien.
»Oh Gott«, kam es ihm kaum hörbar über die blutleeren Lippen.
Wie ein Asthmatiker japste er mit schmerzverzerrtem Gesicht nach Luft. Er
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