Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
tastete nach dem Telefon, wählte im elektronischen Telefonbuch zuerst die Festnetz-, dann gleich anschließend die Handynummer seines jüngsten Sohnes. Schier endlose Sekunden vergingen, aber nichts tat sich. Er war nicht erreichbar.
»Margot«, schrie er so laut er nur konnte in die bleierne Stille hinein, »wo ist Wolfram?« Als er nicht sofort eine Antwort bekam, setzte er verzweifelt nach: »Wo ist er? Es geht um Leben oder Tod!«
Es dauerte kaum mehr als den berühmten Wimperschlag, bis Tannenbergs Mutter im Türrahmen erschien. Sie trug ein geblümtes Nachthemd, war leichenblass und zitterte wie Espenlaub. »Was, was ist denn mit ihm?«, keuchte sie.
»Wo ist er?«, wiederholte Jacob lauthals.
»Ich, ich weiß es doch nicht«, stammelte sie. »Ich hab ihn heute Nacht noch nicht heimkommen hören.«
Wolfram von Tannenberg gab seinem schwarzen Hengst die Sporen. Laut schnaubend preschte das Pferd die enge Furt hinauf zur Hohenecker Burg. Vor ihm tauchte ein undurchdringlicher, aus riesigen weißen Lilien geknüpfter Blütenteppich auf. Erst vor kurzem hatte er von einem Spielmann die Kunde vernommen, dass kein noch so kühner Recke dieses todbringende Hindernis jemals überwinden konnte. Der Legende nach diente es nur einem einzigen Zweck: Das wunderschöne Burgfräulein vor zudringlichen Verehrern zu beschützen.
Plötzlich bekam er es mit der Angst zu tun. In Panik riss er an den Zügeln, warf den Oberkörper nach hinten. Doch der Hengst ließ sich nicht mehr kontrollieren. Im Angesicht des sicheren Todes schloss er die Augen und ergab sich seinem Schicksal. Als aber nichts weiter geschah, schob er vorsichtig die Lider auseinander – und sah, wie durch Zauberhand die Blumen zur Seite stoben und einen güldenen Weg freigaben.
Nun erblickte er die turmhohe Festungsmauer der Burg. Urplötzlich blieb der Hengst neben einem verwitterten Sandsteinfindling stehen. Wolfram von Tannenberg sprang von seinem Pferd, zog die Leier aus der Satteltasche und setzte sich auf den Stein. Der Minnesänger hatte noch nicht einmal die erste Strophe seines Liedes vorgetragen, als oben zwischen den hohen Zinnen Johanna von Hoheneck erschien und ihm freundlich zuwinkte.
»Komm zu mir herein, mein stolzer Prinz«, forderte das elfenhafte Burgfräulein.
Sein Herz schien vor Glück fast zu zerbersten. Er schnellte in die Höhe, warf die Leier beiseite und eilte zu einer trutzigen Zugbrücke, die sich langsam zu ihm herabsenkte.
»Hören Sie mich?«, rief das zarte Stimmchen. »Wolfram, Sie müssen jetzt wach werden.«
Blinzelnd öffnete Tannenberg die Augen. Er blickte mitten hinein in ein verschwommenes Engelsgesicht, das ihn gerade mit einem traumhaften Lächeln beschenkte. »Ja, ja, mach ich gleich, mein Liebling«, säuselte er.
»Liebling? Was faselst du da?«, hörte er von rechts her die barsche Stimme des alten Burgherrn, seines zukünftigen Schwiegervaters.
Er drehte den Kopf in Richtung der tiefen Männerstimme – und zuckte erschrocken zusammen. Neben seinem Bett stand natürlich nicht irgendein eifersüchtiger Burgherr, sondern Dr. Schönthaler.
»Kein Grund zur Beunruhigung, Schwester. So ist er eben, dieser angegraute Westentaschencasanova. Wir schlagen uns hier die Nacht um die Ohren, machen uns große Sorgen um ihn und wachen an seinem Bett. Und wie reagiert er? Anstatt sich bei uns zu bedanken, grinst er wie ein zugekifftes Honigkuchenpferd blöd vor sich hin und baggert dazu auch noch junge, hübsche Lernschwestern an.«
Tannenberg stöhnte gequält auf. Obwohl die verabreichten starken Schmerzmittel seine Wahrnehmungsleistungen deutlich beeinträchtigten, war ihm mit einem Mal klar, dass er sich im Krankenhaus befand. »Was ist passiert?«, keuchte er.
»Das müsstest du doch eigentlich am besten wissen«, polterte der Rechtsmediziner. Kopfschüttelnd rückte er seine Fliege zurecht. »Man kann dich einfach nicht alleine lassen. Du bist wie ein kleines Kind, auf das man ständig aufpassen muss.«
Der Gerichtsmediziner stieß einen verächtlichen Seufzer aus: »Das hätte ich dir gleich sagen können, dass so was nicht gut gehen kann. Wolfram Tannenberg und eine Kulturveranstaltung, das passt einfach nicht zusammen. Das ist genauso abstrus wie ein schwangerer Papst.«
»Was ist passiert?«, wiederholte der lädierte Kriminalbeamte. Mit fahriger Hand tastete er auf seiner Schädeldecke herum, die von einer weißen Mullbinde umwickelt war.
»Wir waren zusammen bei diesem Krimi-Event in
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